Cassandra lag im Schatten des riesigen weißen Hotelsonnenschirms, der - zusammen mit der Sonnencreme Lichtschutzfaktor 50Plus - verhindern sollte, dass ihre Haut die Farbe ihrer Haare annahm und sah ihrer kleinen Schwester dabei zu, wie sie sich in einem knappen roten Bikini am Pool in der Sonne räkelte, umgeben von drei Mädels, die sie bei ihrer Ankunft kennen gelernt hatte und die nicht minder von Mutter Natur mit unempfindlicher Haut beglückt worden waren.
Tatsächlich suhlte sich Cassandra seit ihrer Ankunft am Pool in Selbstmitleid und kämpfte beständig mit einem hässlichen grünen Monster, dem sie wie immer unterliegen würde. Nicht nur, dass die wunderschönen, langen, weizenblonden Haare Rosalies in der Sonne golden glänzten - was sogar die Aufmerksamkeit erwachsener Männer erregte - sie gehörte auch zu der Sorte Frau, die dreimal Sonne sagen musste, um eine gleichmäßige, makellose Bräunung ihrer Haut zu erreichen. Noch nie hatte ihre kleine Schwester sich in der Sonne verbrannt. Die verfluchte Sonne war ihre beste Freundin.
Cassandra schnaubte frustriert und schmierte sich ein weiteres Mal mit der dickflüssigen Sonnencreme ein, wobei sie darauf achtete ihren neuen schwarzen Bikini nicht mit einzucremen, um unschöne Flecken zu vermeiden. Sie hasste es so sehr sich einzucremen, dass ‚hassen' als Wort nicht ausreichte ihre Abneigung zu beschreiben. Dreihundertundvierundvierzig Tage im Jahr cremte sie keinen Zentimeter Haut ein, weil es zum einen dort wo sie lebte völlig unnötig war, zum anderen ekelte sie das Gefühl von Creme an den Händen. Diese sahneähnliche Konsistenz, das feuchte, klebrige ... sie schüttelte sich. Einundzwanzig Tage im Jahr blieb ihr nichts anderes übrig, weil ihre Familie aus Sonnenanbetern bestand, denen vierzig Grad gerade warm genug waren. Temperaturen, die für jemanden mit Hauttyp kalkweiß unheimlich geeignet waren.
Wütend starrte sie die hässlichen Sommersprossen an, die sich - trotz permanenten Eincremens - bereits überall auf ihrem Körper bildeten, so als ob sie sie durch bloße Willenskraft würde verschwinden lassen können. Überraschenderweise völlig erfolglos.
Man sollte doch meinen, dass sie sich mit ihren dreiundzwanzig Jahren mit ihrem Äußeren abgefunden hatte, aber das Gegenteil war der Fall. Jeden verdammten Sommer, wenn sie sich mit ihren verflixten Eltern und ihrer goldfarbenen Schwester in den immer gleichen Urlaub, auf der immer gleichen Insel, in das immer gleiche Hotel zwingen musste, versank sie einundzwanzig unendlich lange Tage in zerstörerischen Selbstzweifeln. Sie brauchte jedes Jahr, die auf diesen lästigen Familienurlaub folgenden dreihundertvierundvierzig Tage, um sich selbst wieder zu lieben und Selbsthass, Selbstzweifel und ihr seelisches Ungleichgewicht zu verarbeiten. Dann ging es von vorn los. Ein nie enden wollender Teufelskreis, gemacht um sie zu zermürben. Grässlich.
Das glockenklare Lachen ihrer Schwester schnitt durch ihre Gedanken. Nächstes Jahr würde sie einfach verzichten und Zuhause bleiben. Vielleicht würde sie behaupten, dass in der Zeit Klausuren lägen oder sie würde sich ein Bein brechen. Wieviele Schrauben, die ihre Knochen zusammenhielten, brauchte es wohl, um nicht mehr durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen zu kommen?
Gerade als sie nach ihrem Smartphone greifen wollte, um die Frage zu googeln, fiel ihr Blick auf braungebrannte, haarige Beine in weißen Chucks.„Hi."
Sie sah auf und fand eine Hand schwebend vor ihrer Nase, darauf wartend, dass sie sie ergriff. Was sie nicht tat. Stattdessen starrte sie einfach weiter.
Amüsiert setzte sich der zu den braunen Beinen gehörige Körper auf die Liege vor der ihren und musterte sie. „Ich bin Dean."
Und was er für ein Dean war! Das beste von Supernatural-Dean und Gilmore-Girls-Dean in sich vereinend, saß ein Halbgott in kurzen Jeans und weißem Hemd vor Cassandra. Sie musste sich am Riemen reißen ihn nicht unverhohlen anzustarren und vielleicht sogar zu Sabbern. Verdammt, sah der gut aus. Sie würde ihn auf einen Meter neunzig schätzen, athletisch, breites Kreuz, goldbrauner Hautton - was auch sonst - dichtes Haar, von dem einige Strähnen ihm verwegen in die rauchblauen Augen fielen, Wahnsinnslächeln. Er war unheimlich süß. Und heiß. Sehr sehr heiß. Wieso genau sprach er mit ihr? Wollte er Rosalies Nummer? Obwohl sie kein Spielverderber sein wollte, war ihre kleine Schwester vielleicht ein bisschen zu jung für ihn.
Sie wich seiner erwartungsvollen Miene aus und verhinderte, dass er ihren Blick festhielt, denn sie sah immer wieder zwischen ihm und den Mädels rund um ihre Schwester am Pool hin und her. Er sah gut genug aus, um sie persönlich anzusprechen. Wieso benötigte er sie als Mittelsfrau?
Irritiert bemerkte sie, dass er amüsiert den Kopf neigte, um ihr den Blick auf den Pool zu versperren. „Versteh mich nicht falsch, ich bin eigentlich nicht eitel, aber dass man mich komplett übersieht, obwohl ich rede und hample und Aufmerksamkeit will, kratzt tatsächlich an meinem Ego."
Damit hatte er ihre Aufmerksamkeit endlich gewonnen. Sie sah auf und ihrem Gegenüber in die Augen. „Sorry?" Sie grinste, obwohl sie noch immer nicht verstand, wieso er gerade mit ihr sprach. Lag sie auf seiner Liege?
Fragend sah er sie an, aber sie starrte nur zurück. „Ok, ich glaube ich fang nochmal von vorne an." Er kratzte sich unsicher am Hinterkopf, grinste dann - was Cassandra beinahe laut seufzen ließ, so sexy war dieses Lächeln - und hielt ihr schließlich erneut die Hand hin. „Hi, ich bin Dean und du bist ...?"
Hingerissen. Aber das wollte er vermutlich nicht wissen, also ergriff sie seine Hand und stellte sich vor. „Cassandra."
Er schüttelte zeitgleich ihre Hand und seinen Kopf. „Ein seltsamer Name."
Ruckartig entzog sie ihm die Hand und runzelte die Stirn. „Danke auch." Ohne ihn weiter zu beachten, griff sie nach ihrem Smartphone und entsperrte es. Sie hörte wie Dean seufzte, dann aufstand und ging. Wozu war er hergekommen? Um sie runterzuziehen? Herzlichen Dank auch, das schaffte sie ganz alleine.
Als sie wenig später herausgefunden hatte, dass sie 24 Stunden nach dem Eingipsen eines Bruchs nicht in den Flieger steigen durfte, legte sie zufrieden ihr Smartphone beiseite und sah zum glitzernden Nass des Pools, das eine willkommene Abkühlung versprach. Wenn sie nur kurz ins Wasser spränge und ein oder zwei Bahnen schwamm, würde der Sonnenschutz sicher durchhalten und sie würde bestimmt nicht augenblicklich verbrennen. Also vermutlich nicht sofort verbrennen. Vielleicht.
Ihr Blick fiel auf Dean, der bei ihrer Schwester und ihren Freundinnen saß und mit ihnen lachte. War ja klar.
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Infinity (Oneshot)
Short StoryDie selbstbewusste, lustige und mit sich sowie der Welt völlig zufriedene Medizinstudentin Cassandra wird jeden Sommer für einundzwanzig lange Tage zur miesepetrigen Fürstin der Finsternis, die sich neben ihrer Schwester klein macht, unter der mäkel...