Spirit, meine erste große Liebe

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Am nächsten Tag graste ich wieder auf dem Hügel, als Little Creek mich holte. Ich hob den Kopf und blickte ihm entgegen. "Hey, mein Mädchen" begrüßte er mich. Ich spitzte die Ohren und folgte ihm brav hinunter zur Koppel. Spirit sah uns bereits entgegen.

"Hallo" begrüßten wir uns, während Little Creek wieder die Lassos an unseren Hälsen befestigte. "Muss das sein?" fragte der Hengst argwöhnisch. "Leider ja. Damit du nicht weglaufen kannst" erwiderte ich. Da öffnete mein bester Freund das Gatter für uns und wir trabten Seite an Seite hinaus.

Erneut zeigte ich ihm die Gegend rund ums Indianerdorf. Wir verbrachten einige Zeit bei meiner Herde und auch die anderen Pferde erzählten Spirit einiges über das Leben in Lakota Village. "Gibt es hier eigentlich auch Orte, wo du dich besonders gern aufhältst?" fragte er mich, nachdem wir unseren Rundgang fortsetzten. "Ja, es gibt einige, wo ich am liebsten bin. Ich kann sie dir zeigen, wenn du willst" Der Hengst nickte und wir machten uns auf den Weg.

Schließlich hatten wir den Apfelbaum erreicht. "Hier halte ich mich am häufigsten auf, wenn gerade im Dorf nichts zu tun ist" erklärte ich und Spirit musterte den Ort. "Von hier aus hat man ja einen Überblick über das ganze Tal" staunte er. "Ja und gleichzeitig ist es auch der perfekte Platz, wenn man mal in Ruhe entspannen will" ergänzte ich.

Wir begannen unter dem großen Baum zu grasen. Die Wiesen hier sind würziger und genüsslicher, als im Dorf unten, ein weiterer Grund, warum ich es liebte, hier zu sein. An einem Ast oben konnte ich einen lecker aussehenden Apfel erkennen, aber er hing zu weit oben. Da würde ich nie im Leben rankommen. Also gab ich mich weiter mit dem Gras zufrieden.

Aber auf einmal prustete Spirit entschlossen und ich hob den Kopf. In dem Moment sprang er vom Boden ab, pflückte den Apfel mit den Zähnen und landete wieder. Stolz sah er mich an, ich verdrehte die Augen und graste weiter. Angeber.

Da ertönte seine sanfte Stimme "Willst du den nicht haben?" Ich sah ihn erstaunt an "Der ist für mich?" fragte ich und er nickte "Danke!" sagte ich erfreut und nahm ihm den Apfel ab. Doch dann fiel mir etwas ein. "Komm, wir teilen ihn uns" meinte ich. Er kam näher, kaute die eine Hälfte des Apfels und ich die andere. Er schmeckte süß und besonders. Spirit und ich lächelten uns an und behielten den Blickkontakt noch eine Weile. Ich konnte mich einfach nicht von seinen wunderschönen braunen Augen lösen. Schließlich war ich es aber, die verlegen den Kopf wieder senkte, um weiter zu grasen.

Nach einiger Zeit spazierten wir weiter durch den Wald, bis wir schließlich den kleinen See erreichten. Spirit sah sich staunend um. Die Wasseroberfläche glitzerte in der Sonne, die Vögel zwitscherten und Seerosen bewegten sich auf den Wellen. "Hier komme ich eher selten hin, aber es ist trotzdem ein faszinierender Ort" meinte ich und der Hengst nickte. Ich blickte auf den See und auf einmal ging der Übermut mit mir durch. Ich trabte geradewegs ins Wasser und der Mustang begleitete mich.

Das Wasser war sehr kühl und erfrischend. Wir schwammen quer durch den See, umkreisten uns oder planschten wie kleine Fohlen herum. So ausgelassen war ich schon lange nicht mehr und ich erkannte, wie viel Spaß man mit Spirit haben konnte. In seiner Nähe fühlte ich mich wohl und ich merkte, dass es ihm genauso ging, denn er lachte ausgelassen. So hatte ich mich noch nie bei einem Hengst gefühlt.

Schließlich paddelten wir wieder ans Ufer und ließen unser Fell in der Sonne trocknen. Ich betrachtete Spirit. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie gut er eigentlich aussah. In dem Moment hob er den Kopf und wir lächelten uns an. Lange. Langsam streckte er den Kopf vor und schmiegte ihn sanft an meinen. "Der Tag heute mit dir war sehr schön. Sowas könnten wir öfter machen" Mein Herz klopfte wie verrückt, aber ich erwiderte die Geste "Von mir aus gerne" erwiderte ich.

In den nächsten Tagen verbrachte ich viel Zeit mit Spirit und lernte ihn immer besser kennen. Seine Nähe tat mir erstaunlich gut. Ich hatte Dalta alles von dem Ausflug zum See erzählt und sie hatte aufgeregt gemeint "Rain, es ist kein Zufall, dass du so glücklich in seiner Nähe bist. Du bist verliebt!" Darüber hatte ich die ganzen letzten Tage nachgedacht, bis ich erkannte, dass sie recht hatte. Ja, ich war verliebt. Zum ersten Mal in meinem Leben. Diese Gefühle waren neu für mich, aber ich wehrte mich nicht gegen sie.

Aus Tagen wurden Wochen und daraus Monate, in denen ich Spirit meine Welt zeigte. Auch seine Bindung gegenüber Little Creek wurde stärker. Er vertraute ihm jeden Tag ein wenig mehr. Trotzdem hatte sich der Mustang bisher noch nicht von ihm anfassen, geschweige denn reiten lassen. Es war unglaublich, wie schnell die Zeit vergangen war und ich war so glücklich wie noch nie, denn Spirit hatte mir nach einigen Monaten seine Gefühle mir gegenüber gestanden. Er liebte mich! Wir waren jetzt offiziell zusammen und ich genoss unsere gemeinsame Zeit noch mehr als zuvor. Er behandelte mich so liebevoll wie kein anderes Pferd, ich konnte mit ihm über alles reden und vertraute ihm auch meine Vergangenheit an. Der Hengst kümmerte sich um mich, wenn ich mal traurig war und Dalta wurde schon ein wenig eifersüchtig, da ich kaum noch Zeit mit ihr verbrachte, wofür ich auch ein schlechtes Gewissen hatte, aber sie gönnte mir mein Glück voll und ganz.

An einem Tag standen der Mustang und ich auf einem Hügel, von wo aus wir einen perfekten Überblick über das Tal hatten. Ein Adler erschien am Horizont und zog seine Bahnen am Himmel. Ich bemerkte, wie Spirit traurig wurde. "Was ist los?" fragte ich ihn. "Dieser Adler kommt aus meiner Heimat, wo meine Familie lebt. Eine Wildpferdeherde, die sich tief im Wilden Westen befindet. Weit weg von hier. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Später wurde ich der Leithengst der Herde. Ich vermisse sie sehr"

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Zum ersten Mal hatte mir mein Partner aus seiner Vergangenheit erzählt, hatte sich mir geöffnet. Kein Wunder, dass er am Anfang nicht hierbleiben wollte. Er vermisste seine Familie, er war der Anführer von ihnen. Mir würde es genauso gehen, würde man mich von meinem Zuhause trennen. Betrübt senkte ich den Kopf und wir machten uns zurück auf den Weg ins Dorf.

Rain's GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt