1)

146 2 0
                                    


„Ich war dezent genervt vom ganzen Leben. Bin vielleicht viel zu oft falsch abgebogen und find nicht mehr zurück, nicht mehr zurück zu mir. Traurig, aber wahr, das mit 24 Jahren zu behaupten. Ich wollte nie etwas schlechtes für meine Mitmenschen und für mich. Doch zog dabei immer mit mir selbst viel zu hart ins Gericht" schrieb ich auf eine leere Seite in mein Notizbuch. Ich atmete einmal tief ein, lauschte dem Ticken der Wanduhr, die im Pausenraum hing und klappte mein Buch zu. Ich ging wieder zu meinem Arbeitsplatz zurück, wo mein Arbeitskollege schon auf mich wartete „Mensch Ida, geht das nicht schneller??" versuchte er scherzhaft zu nörgeln, Ich sah ihn nur schulterzuckend an. Im Moment war ich nicht sehr motiviert weder für die Arbeit noch für mein privates Leben. Da wir hier auf Montage waren, mussten wir zehn Stunden arbeiten und zum Glück gingen diese auch schnell um. „Was machst du gleich noch?" fragte Daniel, mein Arbeitskollege mich. „Ich wollte mir gleich mal Chemnitz anschauen, und du?". Er schaute mich nur ganz schockiert an. „Das sind aber noch ca. 40 km von Zwickau? Was willst du da alleine?", ich zuckte wieder mit den Schultern. Ehrlich gesagt wollte ich nur die Stadt erkunden. Zwickau war jetzt nicht so interessant wie Chemnitz. „Pass bitte auf dich auf, und schreib mir wenn du wieder heile im Hotel bist, ja?" sagte Daniel während wir Richtung Umkleiden gingen.

Endlich konnte ich meine dreckige Latzhose ausziehen. Ich sprang schnell unter die Dusche und schminkte mich ganz dezent. Während der Fahrt nach Chemnitz dachte ich mal wieder viel nach. Ich war ein verdammt nachdenklicher Mensch (geworden) und manchmal wird mir das auch zum Verhängnis. Kopfschüttelnd bog ich ab auf einen Parkplatz.
Es ist Mitte November grau und nass draußen, doch regnen tut es zum Glück nicht. Ich schlenderte der Menschenmenge hinterher und landete direkt in der Innenstadt von Chemnitz. Planlos lief ich durch die Straßen und suchte mir erst einmal eine Bank.
Ich glaub, hier ist die Welt auch nicht in Ordnung, nicht dass ich das erwartet hätte, aber man spürte es sofort. Innerlich zog ich Vergleiche mit dem Rest der Welt bzw. der Menschheit. Oder ich dachte über mich nach und schrieb mein Chaos im Kopf auf.

Es gab eine Zeit, in der wusste ich nicht, wer ich war, wer ich bin, wer ich sein wollte oder lieber sein sollte?
Die heutige Welt, ein Zusammenspiel aus Routine, Einfachheit und Kälte, ließ mich genau so abgestumpft einfach und langweilig werden, wie alle anderen auch. Schade. Aber tief in mir drinnen bin ich das nicht.
Kaum einer ist charakterlich noch ein Individuum. Jeder will ein unkompliziertes und emotionsloses Leben .... das doch eigentlich so schöne Leben.
Möglichst wenig Veränderungen bedeuteten für meine Mitmenschen Sicherheit. Also warum ändern?
Ich glaube immer noch an das Gute in ihnen, und vor allem in mir.

Jeder der sich mein Notizbuch durchlesen würde, würde sich denken "Was zur Hölle ist das für ein Mensch? Genieß doch einfach den Moment."
Doch was ist, wenn sich DER Moment nie richtig und echt anfühlt?
Was ist, wenn ich doch eine andere Art von Sicherheit brauche?
Mein Notizbuch ist schon fast voll.
Voll mit guten und schlechten Zeiten, Zitaten und random Notizen, wie Zahnarzt Termine, weil ich gerade nichts besseres zur Hand hatte.
Ich legte mein Notizbuch zur Seite und überlegte was ich mir hier eigentlich alles anschauen wollte.
Ich entschied mich erst einmal so durch die Stadt zu geistern.
Irgendwann stand ich vor dem Karl Marx Monument, ich schoss ein Foto und schickte es Daniel.
Ich spazierte weiter durch die Stadt und stand zum Schluss vor der Galerie, roter Turm.
Ein riesiges Einkaufszentrum.
Grinsend ging ich rein und staunte nicht schlecht. Es war riesig, einfach gigantisch. Ich atmete ein und nahm den Geruch von frischem Gebäck wahr.
Immer der Nase nach quetschte ich mich durch die Menschenmenge, die mitten im Zentrum war. Warum war es so voll hier?
Ich versuchte mich auf Zehen spitzen zu stellen und dann sah ich mein persönliches Highlight des Jahres, naja mein zweites persönliches Highlight des Jahres.
Das erste war ein Heiratsantrag von einem homosexuellen Pärchen, auf einem Konzert.
Es war wunderschön.
Und heute durfte ich wieder einen Heiratsantrag sehen.
Dieses mal von einem heterosexuellen Paar.
Verdammt, dass ich zu klein für sowas bin. Immer wieder hüpfte ich auf der Stelle um alles zu sehen, doch als alle applaudierten, wusste auch ich dann mit meinen 1,60 m Bescheid. Sie hat Ja gesagt.

Lächelnd ging ich zu einem Cafe und bestellte mir einen Kaffee und ein Stück Apfelkuchen. Wenn ich eins liebe am Winter ist es, dass es überall zimtigen Apfelkuchen gibt. Ich setzte mich an den letzten freien Tisch mit zwei Stühlen und genoss den Moment.
Aufeinmal vibrierte mein Handy. Eine Nachricht von Daniel "Hey ich komme auch nach Chemnitz, bzw. bin jeden Moment da. Wollen wir da ein Bier trinken?".
Ich antwortete "Klar, aber ich bin ja Fahrer ;)".
Hab ihm einen Standort geschickt und wartete nun auf Daniel.
Daniel war eigentlich immer mein bester Freund. Aber seitdem er mit seiner On-Off Beziehung zusammen war, hatte er sich sehr von mir distanziert.

„Ida!!!" hörte ich eine mir bekannte Stimme hinter mir rufen.
Ich drehte mich um und Daniel sind winkend vor mir. „Wollen wir?", ich nickte ihm zu und stellte mein Tablett in den dafür vorgesehenen Wagen. „Wo wollen wir denn hin?" hakte ich skeptisch nach. „Hab gehört, dass Moe's Bar gut sein soll".
Der eisige Wind blies mir durchs Gesicht und ich hoffte, dass es nicht mehr weit war. Chemnitz ist doch schon ziemlich düster, auf jedenfall diese Ecke hier. Alleine würde ich jetzt nicht hier lang laufen.
Als wir ankamen bestellte Daniel uns direkt zwei Bier und wir setzten uns direkt an die Theke. Sehr modern gehalten.
Ich dachte, hier wäre es dunkler bzw. alt und verrucht.
Auch Daniel schien das nicht so zu gefallen, aber er meinte, dass wir jetzt hier bleiben würden.
„Noch fünf Tage, und dann sind wir endlich wieder zuhause." jammerte Daniel rum.
Er war schon wieder genervt von der Arbeit.
Wo er sie doch so sehr liebte, seine heiß geliebte Arbeit.
Zur Zeit hatte ich aber auch keinen richtigen Spaß auf der Arbeit.
Zu wenig Fachpersonal und zu viel Arbeit.
Die Menschen sehen nur das negative, was du machst.
Nie das positive. „Wir sollten die kleinen Dinge im Leben feiern.." nuschelte ich vor mich her. „Was?" ich erntete perplexe Blicke von Daniel. „Ich muss kurz aufs Klo." sagte ich und ging samt meiner Handtasche auf die Toilette. Ich hatte wieder eine Idee für mein Notizbuch.
Ich suchte und kramte wie wild in meiner Handtasche rum, doch ich fand es nicht. „Fuck.." schnell rannte ich zu Daniel und meinte, er solle hier kurz warten. „Du gehst nirgendwohin!
Vor allem nicht alleine!" motzte er mich an. „Ich hab was verloren..", „Und was?", „Notizbuch." zischte ich und legte dem Herrn an der Theke 5€ hin. „ich komme wieder, versprochen."

Doch Daniel bezahlte ebenfalls sein Bier und nahm sich eine Flasche Bier mit. Ich eilte schon mal vor und versuchte den Weg zurück zu gehen, den wir hierher genommen hatten. „Dein Ernst Ida? Für ein Notizbuch?". „Nicht nur irgendeins. Da schreibe ich schon seit Jahren wichtige Sachen rein..."
Der Gedanke daran lässt mich fast los heulen.
Mittlerweile standen wir vor dem geschlossenen Einkaufszentrum. „Verdammte kacke!!!!!" fluchte ich und setzte mich auf den Boden.
Daniel strich mir über den Rücken „vielleicht gibt es ja gute Menschen, die es dir zurück bringen. Hast du deine Kontaktdaten dadrin?", ich nickte. „Wenigstens hab ich da mal was sinnvolles getan." nuschelte ich und rappelte mich wieder auf.

„Los wir fahren zum Hotel, vielleicht finden wir es ja auch dem Weg zum Auto." Daniel verdrehte nur die Augen und folgte mir unauffällig.

Das NotizbuchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt