Teil 1

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Teil/Kapitel 1

Ich öffnete gerade einen der vielen Ballen aus fest zusammengepresstem Abfall, die frisch auf die Deponie gekommen waren. Ich hatte mir das größte und bunteste Paket von allen geschnappt.

Schon von weitem kann ich erkennen, in welchen Ballen etwas Wertvolles zu finden ist und welche nur billiges Plastik enthalten. Sobald ich mit meinem eigenhändig gefertigten Messer die Fäden durchtrenne, mit denen der Abfall zusammengebunden ist, breitet sich vor mir ein wahrer Schatz aus.

„Heute habe ich außergewöhnliches Glück. Endlich, das hab ich mir auch verdient!", murmelte ich leise.

Ich habe immer unermüdlich den besten Abfall gesucht und gesammelt, der sich zu Geld machen ließ. Zusammen mit einem Dutzend anderer Kinder, die unter meinem Schutz stehen, warten wir hier schon seit gestern Abend auf „neuen und frischen" Abfall. Nach dem nächtlichen Regen bin ich zwar bis auf die Haut durchnässt, aber die Tropfen haben mir wenigstens das schmutzige Grau der letzten Tage abgewaschen, die ich mit meiner Arbeit auf der Mülldeponie verbracht habe. Heute sieht es nach einem warmen Tag aus. Das ist typisch für Ende April. Mit vernarbten und immer wieder neu verschorften Händen stöbere ich durch die „Ware" und schätze im Licht des Morgengrauens mit geübtem Auge den Inhalt meines Ballen. Die anderen Kinder kommentieren meinen Fang nur mit ein paar neidischen Worten und widmen sich dann wieder betont wichtig dem Durchstöbern „ihres" Abfalls. Wir alle sind in Eile, weil in etwa einer Stunde die älteren und fauleren, dafür aber gut ausgeschlafenen Sammler kommen, die stärker und aggressiver sind als wir. Ihnen widerstrebt es keineswegs, physische Gewalt einzusetzen, um uns Jüngeren die kostbaren Schätze zu rauben, die wir am frühen Morgen im Schweiße unseres Angesichts gesammelt haben.

Sorgsam verstaue ich die Ernte des heutigen Tages in dem vorbereiteten, vielfach geflickten Jutesack. Einige Kleidungsstücke, zwei alte Handy-Ladegeräte, eine Teflon-Pfanne ohne Griff, ein paar leere Bierdosen – doch am meisten freue ich mich über den einige Meter langen Kupferdraht. Zu guter Letzt habe ich noch einen Flakon gefunden, in dem sich noch einige Tropfen der kostbaren Flüssigkeit befinden. Das Parfüm stecke ich nicht in den Sack, sondern direkt in die Tasche meiner geflickten Hose. Das will ich für mich behalten.

Die für mich nahezu wertlosen Kunststoffabfälle überlasse ich den jüngeren Kindern, die die Regeln und Hierarchien der Müllhalde gerade erst erlernen. Die Anfänger müssen sich nach ihnen richten, sonst überleben sie hier nicht. Auch ich habe vor vielen Jahren als Plastikabfall-Sammlerin vierter Klasse angefangen. Heute aber beneidet mich jeder auf der Halde um die Position, die ich mir erarbeitet habe. Sogar in den Reihen der anderen Gangs habe ich mir Respekt erworben. Ich bin Sammlerin erster Klasse. Ich genieße hohes Ansehen, weil der von mir entdeckte Abfall sich immer irgendwie zu Geld machen lässt. Ich besitze sogar zwei Paar Schuhe! Doch das war nicht immer so.

Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich, die Erinnerungen an die Zeit meiner ersten Anfänge auf der sich endlos wellenden Müllhalde heraufzubeschwören. Es ist so lange her, dass ich meinen älteren Bruder dringend bat, mich zum Sammeln mitzunehmen. Lange zögerte er, wollte sich nicht mit der kleinen Schwester am Hals den Ruf bei den Kumpels verderben. Aber am Ende befahl es ihm der Vater, nachdem ich geklagt hatte, dass mein Bruder mich nicht mitnehmen wollte. „Wenigstens bringt er ein paar Centavos nach Hause, der faule Bankert!", rief der Vater. Anders betitelte er mich nie. Als ob ganz vergessen hätte, dass ich Malaya heiße. Noch am selben Tag durfte ich an meiner eigenen Haut erfahren, wie es auf der sich über einige Quadratkilometer ziehenden Deponie läuft.

Bis an die Hüften in allen möglichen verrottenden Überresten steckend begann ich, Kunststoffe, Plastiktüten und Plastikflaschen zu sammeln. Ich musste alles nach Farbe, Härte und Art des Materials sortieren. Es dauerte nicht lange und ich hatte so viel davon, dass ich es stolz zur Sammelstelle tragen konnte. Zu meiner Enttäuschung erhielt ich keine Bezahlung. Nur eine Tüte mit „wertvollerem" Abfall. Genau so funktioniert es! Für den über mehrere Tage gesammelten und sortierten Plastikmüll erhielt ich nur einen lausigen Beutel mit „besserem" Müll.

Die Tränen der verkauften MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt