Es wirbelt und wirbelt...

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Schneeflocken schmelzen unter meinen Schuhsolen, als ich über die Strasse in Richtung des "Bistro an der Ecke" laufe. Pius und ich sind dort fast Stammgäste. Als wir uns kennengelernt haben, sind wir jede Woche hin und haben entweder Kaffee oder Chai-Latte getrunken und stundenlang geredet. Wir sind auf dem blauen, total gemütlichen Sofa gesessen und ich habe mich immer wie zu Hause gefühlt. Das Bistro ist ein bisschen wie mein zweites Wohnzimmer geworden. 

 In der letzten Zeit sind wir jedoch immer weniger häufig im Bistro gewesen. Wenn ich ehrlich bin, haben wir uns im Allgemein weniger häufig gesehen. Aber ich schiebe das auf die vielen Pflichten, dies es speziell in der Weihnachtszeit in der Schule und Privat zu erledigen gibt. Prüfungen schreiben, mit der Familie das Weihnachtsessen planen und einkaufen, Geschenke besorgen... und was sonst alles noch auf meiner To.do-List stand. Eine Menge! 

Aber das ist jetzt alles egal, denn heute sehe ich ihn wieder. 

Ich öffne die Tür und trete in die geheizte Stube.  Am Theken bestelle ich mir eine heisse Schokolade, das habe ich hier noch nie getrunken, und schlendere zu unserem Sofa. Es ist besetzt. Ein Pärchen in meinem Alter sitzt eng aneinander gelehnt auf dem weichen Polster und schaut sich gegenseitig tief in die Augen. Da ich das junge Glück nicht stören will, suche ich mir einen Platz weiter hinten an einem kleinen Zweiertisch. Auch gut! Pius ist noch nicht da, also verbringe ich die Warteminuten, indem ich die anderen Gäste beobachte. Vor allem das junge Pärchen beansprucht meine Aufmerksamkeit. Sie sehen beide so glücklich aus. Er streicht ihr liebevoll das Haar hinter die Ohren und lächelt sie an. Sie nippt an seinem Becher und verzieht das Gesicht , was ihn zum Lachen bringt. Sie belohnt das Lachen mit einem schnellen Kuss auf seine Nase. Und dann schauen sie sich wieder innig und total selbstvergessenen in die Augen. Sie sind so süß zusammen. Und ich warte immer noch auf den Jungen, den ich echt gerne mag. Meine heisse Schokolade ist mittlerweile lauwarm, unangerührt. Das junge Pärchen küsst sich. Ich fühle ein kleiner Stich im Herzen. Gleichzeitig freue ich mich für ihr Glück. Ich weiss, wie schwierig es ist, den richtigen Menschen zu finden, mit dem man solche Momente teilen kann. Ich glaube, dass ich meinen solchen Menschen gefunden habe. Wenn er nur endlich kommen würde. Mittlerweile warte ich seit 20 Minuten.  Ich ziehe mein Handy aus dem Rucksack und überprüfe die Nachricht die ich ihm geschickt habe:

" Hey Pius, wollen wir uns heute so um 18 Uhr im Bistro treffen. Ich habe Lust auf einen Chai-Latte?"

Es ist eine mittlerweile eher laue, als wirklich warme Schokomilch daraus geworden.

"Klar! Ich auch. Bis dann, Sed!"

Ich habe mich nicht geirrt. Die Zeit stimmt. Es ist 18:25 Uhr.  Ich rufe ihn an. Die Mailbox geht ran. Ich versuche es ein zweites Mal. Fünf Minuten später ein drittes und viertes Mal. Ich schreibe eine Nachricht und frage, wo er bleibe und ob alles okey sei, dass ich hier im Bistro auf ihn warte. Ich bekomme keine Nachricht von ihm. 

Wo ist er nur? 

Ist etwas passiert?

Das Pärchen hat seine Getränke ausgetrunken und steht langsam auf. Er hält ihr den Mantel so hin, dass sie reinschlüpfen kann und haucht ihr danach ein Küsschen auf die Wange. Sie dreht sich um und erblickt mich. Mit einem mitleidigen Blick auf meine mittlerweile kalte aber immer noch volle Tasse wickelt sie sich den Schal vier Mal um den Hals und steckt sich den etwa zehn Millimeter kurzen Resten vorne in die Jacke. Wow! Ihr halbes Gesicht ist von flauschiger Wolle verdeckt. Leider blicken ihre Augen immer noch herzzerreissend mitleidig in meine Richtung, als sie sich weisse, warme Handschuhe überstreift. Er ist mittlerweile auch mit den Anziehen fertig und dreht sich fragend nach ihr um, ob sie schon bereit zum Gehen ist. Er bemerkt ihren Blick, der immer noch auf meine eiskalte Tasse voller Schokolade und Milch gerichtet ist und schaut in dieselbe Richtung. Er bemerkt , dass neben der verfluchten Tasse ein Handy liegt, bereit um einen Anruf schnell entgegen nehmen zu können. Er bemerkt das nervöse Wippen meiner Beine und das trommeln meiner Finger auf dem Tisch. Er bemerkt den leeren Stuhl vis-à-vis von mir und zieht wie seine Freundin mit dem mitleidigen Blick dir richtigen Schlüsse. Langsam wird es auch mir bewusst. 

Ich wurde eiskalt versetzt! 

Von dem Mann, den ich recht gerne mag. Ich sehe, wie mein Zukunft à la verliebtes Pärchen auf den grünen Sofa langsam vor meinen Augen schmilzt. 

Stopp!

Vielleicht ist etwas passiert.

 Ein Unfall. 

Oder es ist etwas mit seiner Familie. 

Stau. 

Der Bus ist kaputt. 

Der Busfahrer wegen Alkohol im Blut verhaftet. 

Der Ersatzbus eine Stunde entfernt im Schnee stecken geblieben. 

Und zu allem Übel hat gerade heute der Netzwerkanbieter wegen eines Stromausfalles ein Problem und er hat keine Netz. 

Geht das überhaupt?

 Vielleicht ist ihm aber auch einfach das Handy auf den Boden gefallen, er ist darauf getreten und  jetzt hat es einen Totalschaden.

 Er kennt meine Handynummer nicht auswendig und kann mich mit einem fremden Handy nicht erreichen. 

Sicher hat er mich nicht versetzt! 

Sie schüttelt den Kopf, als wollte sie mir widersprechen.  Er grinst mich schadenfreudig an. Arschloch! Dann sieht er ihr tief in die Augen. Das Mädchen mit dem halb verdeckten Gesicht und dem mitleidigen Blick sieht ihm tief in die Augen. Ich bin vergessen. 

Wie schnell ich vergessen bin! 

Vergessen!

Ich kann mich nicht mehr bewegen, denn mittlerweile ist der ganze verfluchte Tisch und der scheiss Stuhl gefroren. 

"Pius! Ich spucke gleich Feuer! Du musst eine verdammt heisse Begründung haben, warum du mich eine ganze verdammte Stunde im Bistro warten lässt! Ich gehe jetzt nach Hause!"



Mein lavendelfarbenes SchneckenhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt