„Weißt du eigentlich, wie es ist, wenn Leute eine blutende Wunde hinterlassen, die dich dazu verdammt, in den Schatten zu wandern?"
So fing der Brief an, jeden Buchstaben einzeln in den Augen, den ich las. Mein Herz pochend, meine Hände zitternd und in meinem Kopf versuchte ich, mir die Logik einzureden, dass ich auf dieser Reise nichts gewinnen konnte.
Und wenn ich zurückblickte, so kam es mir wie eine düstere Ironie des Schicksals vor. Gleichzeitig aber zog mich etwas auf diesen Weg, als ich in diesem alten Zug saß und aus dem Fenster schaute.
Doch außer dem grauen Nebel waren nur ab und zu schwarze Silhouetten zusehen. Vermutlich alte Eichen, aber sie weckten den Gedanken an eine leere Todes ebene, wo die alten Seelen umherirrten.
Ein schauriger Gedanke, der zugleich auch etwas an die Zeilen im Brief er innerte. Ein starkes Rütteln im Zug riss mich aus meinen Gedanken.Mein Herz machte einen leichten Hopser. Als ich meinen Kopf bewegte,stand neben dem Sitz ein Mann in einem schwarzen Anzug und weißen Handschuhen. Aber es war nicht das, was mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ, sondern dieses bleiche und faltige Gesicht. Seine Wangen waren kantig und seine grauen Augen schauten mich mit diesem kühlen und starren Blick an. „Ich schätze, Sie wollen meine Fahrkarte sehen."
Ich schluckte, was wenn dieser... dieser jemand nun erfuhr, dass ich keine Karte dabei hatte? Nun, ich könnte ihm vielleicht die ganze Geschichte erzählen, dass es am letzten Bahnhof, an dem ich umgestiegen war, weder Schalter noch einen Automaten gegeben hatte.
An dem Bahnhof, der verlassen schien, bei dem ich schon gedacht hatte,ich wäre im Nirgendwo gelandet, und doch schien es der Weg zu sein,der in dem Brief beschrieben wurde. Aber würde mir diese Gestalt Glauben schenken? Aber ich könnte ja einfach sagen, dass ich es im Gepäck habe und es holen gehe, damit ich mich im letzten Wagon verbergen und vielleicht bis zum Schluss der Fahrt der Kontrolle entziehen kann. Die wenigen Sekunden, in denen ich diese und andere Möglichkeiten durch meinen Kopf habe fliegen lassen, fühlten sich wie Stunden an. Ich spürte, wie mein Puls schneller schlug, bis ich mich an die niedergeschriebenen Worte in den obersten Zeilen erinnerte.
„Auf der langen Fahrt, sowohl im Leben und auch auf manch anderer Strecke,wünschte ich öfter, man wäre einfach ehrlich."
Einrecht merkwürdiger Zufall, wie ich zugeben musste. Die Zeilen erschlossen sich mir nicht ganz, aber wenn ich mich zurück an ihn erinnerte, war es vielleicht...
Langsam streckte die lange Gestalt ihre Hand aus. „Haben Sie etwas für mich?", sprach sie mit einer heiseren Stimme.
„Nein",kam es zitternd aus meinem Mund, "ich habe niemanden gefunden, der mir eine geben konnte."
Nun zeigte der Mann mit seinem langen Finger auf meine Jacke. "Schauen Sie vielleicht doch mal in Ihrer Tasche."
Zuerst dachte ich, das sei ein Scherz, aber als die Miene des Mannes sich keinen Millimeter regte, griff ich schließlich zögerlich in meine Jacke. Erst links, wo ich wie erwartet nichts fühlte außer den Stoff, aber zu meiner Überraschung fand ich in der anderen etwas,das sich wie Metall anfühlte. Ich holte es also hervor und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger eine silberne Münze. Das Silber reflektierte das schwache Licht der Lampe, die an der Decke des Wagons hing. Das Licht machte die leichte Gravierung auf dem Metall sichtbar, die auf einer Seite eine Schleiereule formte und auf der anderen... wohl so etwas wie einen Splitter.
Als ich die Münze in die knorrige Hand legte, holte er eine Art Zange heraus. Zwei kleine Eisennägel aus dem kalten Metall bohrten ein Loch in die Mitte der Münze. Ich glaubte, auch eine leichte Regung in seiner Mimik zu sehen, als er mir das Silberstück zurückgab und dann weiter durch den Wagon ging. Seine Schritte verstummten. Als er kurz vor der Tür stehen blieb, klopfte er dreimal und die Tür schwang auf.
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Gebrochene Seelen
القصة القصيرةBei "Gebrochene Seelen" handelt es sich um eine Reihe von Kurzgeschichten, die sehr von Düsternis, Zweifeln und schmerzvollen Erlebnissen geprägt sind. Kurze, aber dennoch tiefgründige Geschichten, in denen unter anderem wahre Begebenheiten abstrakt...