ZWANZIG

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Während ich zurück zur Station lief, brannte mir der Kuss immer noch auf meinen Lippen. Er war so flüchtig und gleichzeitig so unendlich gewesen, dass ich ihn nicht vergessen konnte. Meine Schritte waren federnd. Ich hätte schwören können, auf Wolken zu schweben. Alles fühlte sich so warm und weich an. Ich glaubte, ich war verliebt.

Die Türen meiner Station öffneten sich automatisch. Ich trat ein und fühlte mich noch immer schwerelos. Ein stechendes Geräusch störte meine Tagträume und ich sah auf. Das Notfallsignal war aktiviert worden. Notfall, hallte es in meinen Gedanken wider.

Meine Blase der Zufriedenheit zerbrach in tausend Scherben und stürzte haltlos zur Erde. Das Adrenalin schoss mir in die Adern und ich setzt zum Sprint an. Achtlos trat ich auf die imaginären Scherben und rannte, als würde es um mein Leben gehen. Der Schweiß brach mir aus. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Wo kam das Signal her? Gehetzt sah ich mich um. Es war eins meiner Zimmer.

Wie eine Kanonenkugel schlug Entsetzen in meinem Magen nieder. Sie versetzte mir einen Stich und mir wurde übel. Was war geschehen?

Hektisches Stimmengewirr drang durch den Nebel meiner Panik, der meinen Verstand umhüllte. Ich verstand nur Fetzen, aber ein Wort vernahm ich ganz deutlich: Rea-Team.

Ich beschleunigte das Tempo und mein Atem ging stoßweise. Mein wochenlanges vernachlässigtes Training rächte sich wie eine betrogene Ehefrau. Schlitternd erreichte ich das Zimmer und blieb schnaufend im Türrahmen stehen. In Sekundenschnelle erfasste ich die Situation. Zwei Kollegen. Ein Patient. Frau Berger. Sie drehten sie zur Seite. Jana. Legt ein Brett ins Bett. Das Wort Reanimation geisterte in meinem Verstand herum. Eine Schocksekunde lang konnte ich mich nicht bewegen und beobachtete teilnahmslos die dramatische Szene.

»Nicky, HOL DEN REA-WAGEN!« Janas Stimme weckte mich aus meiner Starre und ich blinzelte sie verwirrt an. Ich schüttelte meinen Kopf und klärte meine Gedanken. Augenblick trat ich den Rückweg an und rannte, so schnell wie es meine Lungen erlaubten, zurück.

Der Weg dauerte quälend lange, die Zeit jedoch fühlte sich doppelt so schnell an, als wäre eine Sekunde eine Minute. Am Rea-Wagen angelangt, riss ich ihn von der Wand und stieß mit meinem Knie schmerzhaft dagegen. Der Schmerz schoss mir bis in den Oberschenkel und ich verkniff mir einen Aufschrei. Stattdessen rannte ich unbeirrt weiter.

Zurück bei meinen Kollegen hatte sich das Bild verändert. Jana stand jetzt nicht mehr neben dem Bett, sondern kniete auf der Matratze neben der Patientin und drückte auf ihre Brust. Die Hand verschwand zentimetertief im Körper von Frau Berger und ich hörte ein ekliges Knacken. Meine Haare stellten sich im Nacken auf und mir wurde heißt und kalt zugleich.

»Ich brauche einen Tubus Nicky.« Michelles blaue Augen waren vor Angst geweitete und ihre Stimme zitterte. In ihrem Gesicht hatten sich tiefe Furchen gebildet, die nicht von Übermüdung herrührten.

Verständnislos schaute ich sie eine Sekunde lang an, bevor ich verstand. Sofort öffnete ich den Rea-Rucksack, der oben auf dem Wagen lag, und suchte mit zitternden Händen einen Tubus. Kleine in Plastik eingeschweißte Pakete kamen zum Vorschein. Pflaster, Kompressen und mehr rann mir wie Sand durch die Hände, doch ich fand keinen Tubus.

Viel zu lange dauerte es, bis ich endlich einen fand. Etwas genervt riss ihn mir Michelle aus der Hand, klaubte von der unteren Ebene des Rea-Wagens den Beatmungsbeutel auf und lief zurück zu der Patientin. Plötzlich fühlte ich mich nutzlos und starrte eingeschüchtert meinen Kollegen zu. Das war meine erste Reanimation und stand unter Schock.

Mein Blick fiel auf Jana. Ihre schwarzen Haare lösten sich aus dem Pferdeschwanz und Schweißperlen rannen ihre Stirn hinab. Ich sollte sie besser ablösen. Kaum hatte sich der Gedanke in mir verfestigt, da setzte ich mich schon in Bewegung. »Jana. Jana!« Ihr Blick war gehetzt und ihre Pupillen unnatürlich geweitet. »Ich löse dich ab«, sagte ich ihr bestimmt und berührte sie an der Schulter.

Gegen Liebe gibt es keine Medizin Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt