Kapitel 3 - Die verdorbene Stadt | 1

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Eigentlich widerte es sie an, so ein herzloses Miststück zu sein, das sich bloß um sich selbst kümmerte. Vor langer Zeit, sie konnte sich kaum mehr daran erinnern, hatten ihre Eltern es ihr anders beigebracht. Sie hatten ihr gesagt, dass man selbst am zufriedensten mit seinem Leben war, wenn man anderen etwas zurück gab. Und man half, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. »Auch winzige Schritte sind Schritte.«, hatte ihre Mutter Ardenwyn lächelnd erzählt.

Doch die junge Feuertänzerin hatte feststellen müssen, dass sie am zufriedensten war, wenn sie am Leben war und von allen anderen in Ruhe gelassen wurde. Wenn sie nur ein Schatten am Rande der Gesellschaft war.

Und so blickte sie ein letztes Mal zu dem verzweifelten Jungen, der ihr ihre Entscheidung bereits ansah. Schlagartig wich jegliche Farbe aus seinem Gesicht. Der kleine Funke von Hoffnung erstarb und ihm war der Horror anzusehen, dem er jetzt nicht mehr entkommen konnte.

Sie wollte leben. Um jeden Preis. Darum durfte sie sich nicht einmischen. Vielleicht kam der Junge mit einer Tracht Prügel davon. Vielleicht verlor er hier aber auch sein Leben. Ardenwyn war nicht mehr die kleine Ardenwyn Descinere, die in einem behüteten Haushalt gelebt hatte, bei Eltern, die ihr Hilfsbereitschaft und Güte anerziehen hatten wollen. Jetzt war sie Arda Elster. So wenig ihr das auch zusagte.

Und somit warf sie dem Mann nur einen herablassenden Blick zu, ehe sie die beiden Bandenmitglieder auch schon hinter sich ließ.

Je näher sie dem Rand des Labyrinths kam, desto weniger Leute begegneten ihr. Verlassen ragten die hohen Mauern vor ihr auf. Und tatsächlich fand sie das beunruhigender, als wenn ihr lauter Kriminelle über den Weg laufen würden. Obwohl bereits vierzehn lange Jahre vergangen waren, war ihr, als würde etwas ihr die Luft abdrücken, wenn sie die sicheren Mauern des Viertels verließ. Eine bedrückende Last legte sich auf ihre Seele und ließ Ardenwyn nicht zur Ruhe kommen.

Jedes Mal, wenn sie aus den Tiefen der Verstoßenen auftauchte, kehrten die Erinnerungen zurück. Schmerzhafte Erinnerungen. Erinnerungen an Feuer, an Tod und Verlust. An Personen, die nicht mehr existierten. An ein Leben, das nicht mehr ihres war.

Und jedes Mal drohte sie darunter zu zerbrechen. Ihre Seele wollte unter dieser Last zerbersten.

Langsam lichtete sich der Dschungel aus heruntergekommen Häusern und ein Schwall aus Sonnenlicht brach über Ardenwyn herein. Kurz blinzelte sie mehrmals hintereinander, ehe sich ihre Augen an das helle Licht gewöhnt hatten. Vor ihr erstreckte sich eine Reihe aus kostengünstigeren Häusern der Welt außerhalb des Labyrinths. Häuser, die zwar älter oder heruntergekommener aussahen, aber dennoch weitaus besser als die Häuser im Viertel der Verachteten. Ab hier ergaben die Straßen und Gassen einen Sinn. Verfolgen einen Zweck.

Nicht mehr weit und sie hätte die Marktstraße erreicht. Wenn sie sich nach links wandte, konnte sie bereits die gewaltige Burg sehen, die über den Dächern der Häuser in den Himmel ragte. Einst war die Burg ein prunkvolles Schloss gewesen, bis es zur Burg umgebaut worden war. Dennoch hatte sie kaum etwas von ihrer Schönheit eingebüßt. Nach wie vor war sie Ehrfurcht erregend. Mit der Zeit war immer mehr zur Burg hinzugefügt worden. Darum erschien sie teilweise etwas zusammengewürfelt. Dennoch hatte es seinen Charme.

Der Teil, der noch zum ehemaligen Schloss gehörte, war aus weißem Stein erbaut. Einige Türme ragten elegant empor. Ihre Dachziegel waren dunkelgrau, beinahe schwarz. Doch der Teil, der im Nachhinein hinzugefügt wurde und der aus dem Schloss eine Burg gemacht hatte, war aus grauem Stein. Die Dachziegel dieser Türme waren dunkelrot und gaben dem großen Gemäuer etwas Beunruhigendes. Die dicken, hohen Mauern, die die Burg umschlossen, trennten sie vom Rest der Welt ab. Es war, als gab es mitten in Mortas Potera eine weitere, eigene Stadt.

Verbittert wandte Ardenwyn ihr Gesicht von der Burg ab. Irgendwo dort, innerhalb dieser schweren Mauern, befand sich Avaron Schwarzwasser. Der Mensch, der sich selbst zum König ernannt hatte, nachdem er Arylon, den vorherigen König, einen mächtigen Feuertänzer, im Schlaf ermordet hatte.

Tief in ihr brodelte ein unbändiger Hass. Dieser war so überwältigend, dass die junge Frau sich kaum mehr kontrollieren konnte. Avaron hatte ihr alles genommen. Hätte es ihn nicht gegeben, hätte es niemals diesen Krieg gegeben, der allen Feuertänzern das Leben gekostet hatte. Ohne ihn wäre ihre Familie noch am Leben. Ohne ihn, würde sie noch bei ihren Eltern leben. Aber er hatte alles zunichte gemacht. Er, der die magischen Wesen verachtete. In einem Land, dessen Bevölkerung hauptsächlich aus magischen Wesen bestand.

Der falsche König hatte Ardenwyns Heimatstadt vergiftet. Hatte ganz Espenjona vergiftet, mit seiner Regentschaft. Der Hass und die Verbitterung schienen die Diebin von innen heraus zu verätzen. Alles in ihr sehnte sich so qualvoll danach, den Weg zur Burg einzuschlagen, unaufhaltsam jeden, der sich ihr in den Weg stellte, zu beseitigen, damit sie endlich Avaron gegenüber stehen konnte. Schon oft hatte sie davon geträumt. Verbrennen würde sie ihn. Quälend langsam, an lebendigem Leibe. Er sollte ihren Schmerz spüren.

Die Menschen lebten schon lange mit den magischen Wesen zusammen. Eines Tages, vor etwa 1500 Jahren hatten die ersten Menschen an den Ufern Espenjonas angelegt. Waren fasziniert von den Wesen, die hier lebten, die so andersartig waren, als sie es gewohnt waren. Seither hatten sie in Frieden mit ihnen zusammengelebt. Bis Avaron kam. Und er den Hass säte, der einen Keil zwischen die Menschen und die Wesen trieb. Der den Feuertänzern zum Verhängnis wurde.

Erneut erwischte sie sich dabei, wie sie die Burg anstarrte. Zornig riss sie ihre Augen von den hohen Mauern und zwang sich, sich auf den Weg zur Marktstraße zu konzentrieren. Ihre Miene war so verzerrt, dass die Leute, denen sie begegnete, sie mit einem Ausdruck der Angst bedachten und ihr so schnell wie möglich aus dem Weg gingen. Eine Mutter packte ihren kleinen Sohn an der Hand und zerrte ihn aus ihrem Sichtfeld. Ihre goldenen Augen trugen vermutlich nicht dazu bei, ihr zorniges Auftreten zu entschärfen. Vermutlich glühten sie wieder wie tausend Sonnen.

Trotzdem hatte Ardenwyn Glück, dass nur ihre Augen darauf hinwiesen, dass sie vielleicht kein normaler Mensch war. Steinteufel oder Feen hätten es deutlich schwerer als sie, hier in einer Gegend, in der magische Wesen mit Abneigung betrachtet wurden, nicht aufzufallen. Steinteufel zum einen, weil sie eine hellgraue Haut, sehr helle Haare, spitz zulaufende Ohren und beinahe weiße Augen hatten. Elfen zum anderen, weil sie ihre libellen- oder schmetterlingsartigen Flügel nicht verbergen konnten. Und auch sie hatten spitz zulaufende Ohren. Von den Elfen bildete bloß der Wasserfluch eine Ausnahme. Soweit man den Gerüchten trauen konnte, waren ihm als Kind die Flügel mit Gewalt entrissen worden.

Die Feuertänzerin zwang sich zur Ruhe. Sobald sie die Marktstraße erreicht hatte, durfte sie nicht mehr auffallen. Sie musste eins mit der Menge werden. Darum durften ihre Augen nicht glühen. Solange niemand wirklich hinsah, fielen ihre goldenen Augen nicht wirklich auf.

Als sie zwischen einer weiteren Häuserreihe hindurch ging, hatte sich die Intensität ihrer Augen wieder normalisiert. Außerdem hatte sie den Durchgang zur Marktstraße erreicht. Sobald sie diesen durchtrat, eröffnete sich ihr eine breite lange Straße, in der es nur so vor Leuten wimmelte. Jeweils rechts und links reihte sich ein Geschäft nach dem nächsten auf. Und in der Mitte der Straße hatten Bauern, Schuhmacher, Tuchhändler und viele andere Personen ihre Stände aufgebaut. Anders als auf dem Schwarzmarkt verlief hier alles geordnet und jeder hatte genug Platz, um von einem Ende der Straße zum anderen zu gelangen. Hier quetschte sich kein Stand an den nächsten. Alles hatte seinen Platz und seine Ordnung. Die Wachen achteten sogar darauf, dass das auch eingehalten wurden, neben ihrer eigentlichen Aufgabe; dem Fassen von Dieben und Betrügern.

Feuertänzerin - Erbin der FlammenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt