Kapitel 9

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Der Regen trommelte in dicken Tropfen an die Scheibe, als ich am nächsten Morgen in den Speisesaal zum Kaplan hechtete. Um den Tisch herum saßen schon insgesamt vier Knappen, demnach fehlte nur noch Hedwig. Ava und Klara brachte Helene das Lesen und Schreiben bei. Die vier Knappen stammten alle aus Dörfern rund um Katzenstein und waren zum großen Teil etwas älter als Hedwig. Nur einer von ihnen war älter als ich, meines Wissens nach. Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und legte meine Sachen auf den Tisch. Der Kaplan betrachtete mich mit strengem Blick.

„Pünktlichkeit ist eine Tugend. Wo bleibt eure werte Schwester?" Ich zuckte die Schultern.

„Keine Ahnung. Bin doch nicht ihr Leibwächter." Mahnend klopfte er auf den Tisch.

„Achtet auf eure Sprache." In dem Moment kam Hedwig endlich durch die Tür gestolpert.

„Entschuldigen sie.", keuchte sie „Ich war noch mit auf der Weide, wegen den..." Der eiserne Blick des Kaplans ließ sie verstummen.

„Zeit für Pferde habt ihr nach dem Unterricht. Solltet ihr euch ein weiteres Mal verspäten, werde ich euren Vater informieren. Setzt euch." Hedwig setzte sich kleinlaut auf ihren Stuhl gegenüber von mir. Ihre Haare waren nass und verstrubbelt und Wasser tropfte von ihrer Nasenspitze auf den Tisch. Ihrem Geruch nach zu urteilen hatte sie sich nach dem Frühstück weder die Zähne geputzt, noch hatte sie, nachdem sie bei den Pferden gewesen war, etwas Frisches angezogen.

Der Unterricht war die gleiche Leier wie jeden Tag. Welche Rolle wir in der Gesellschaft hatten. Wie die Politik im Reich funktionierte und so weiter und so fort. Neidisch sah ich Hedwig und den Knappen nach, als sie endlich nach draußen durften. Dem Kaplan missfiel es sichtlich, dass Hedwig mit den Jungen den Raum verließ. In seinen Augen hatte sie ebenso eine Dame zu werden wie ich es sein würde. Als der Kaplan wieder in seinen monotonen Unterricht fiel, unterbrach ich ihn.

„Was bewirkt eigentlich die Hochzeit zwischen einem der Fürstensöhne und mir genau? Was kann passieren?" Sein Blick wurde einen Moment lang eisern, dann aber überrascht, vermutlich über die Tatsache, dass ich mich ausnahmsweise einmal für seinen Unterricht interessierte. Er ließ sich auf Hedwigs Platz sinken und zog eine Karte der Umgebung heran.

„Seht.", er deutete auf einen grünen, recht großen, Bereich. „Dies hier sind die Ländereien der Familie Oettingen. Dies hier", er wies auf einen recht kleinen fliederfarbenen Bereich, „ist das Gebiet der Katzensteins. Euer Vater hofft darauf, dass ihr in die Fürstenfamilie einheiratet. Das würde ihm Mitspracherecht über das Gebiet der Oettinger geben. Dann würdet ihr nach Oettingen ziehen und über deren Gebiet mitbestimmen. Das wäre für ihn der beste Fall." Ich schluckte. Für ihn ja, für mich wäre es ein Albtraum.

„Und wenn es nicht so gut verläuft?", fragte ich vorsichtig. Der Kaplan seufzte und tippte nachdenklich mit den Fingern auf der Karte.

„Im ungünstigsten Fall zieht der Fürstensohn nach Katzenstein und alle Besitztümer gehen an Oettingen. Damit würdet ihr eure Unabhängigkeit verlieren und die Ländereien würden unter dem Fürsten von Oettingen stehen. Meinen Einschätzungen nach wird das nicht passieren, aber möglich wäre es durchaus und wenn ja, dann wird euer Vater nicht sehr glücklich darüber sein."

Ich starrte den Regen an, der gegen die Fenster peitschte und in kleinen Bächen am Glas hinunterfloss. Nein, glücklich würde er darüber nicht sein. Vater war heute schon kurz nach dem Frühstück aufgebrochen und würde erst am späten Nachmittag wieder heimkehren. Hoffentlich mit guten Neuigkeiten. Oder auch mit nicht so guten. Wenn ich in Katzenstein bleiben könnte, wäre mir das sogar die Wut meines Vaters wert.

Als mich der Kaplan aus dem Unterricht entließ, war der Regen nicht im Geringsten weniger geworden. Nachdem ich meine Sachen zurück in mein Zimmer gebracht hatte, sprintete ich über den oberen Hof, auf dem sich schon kleine Rinnsale formten und durch die Tür des Katzenturms. Ich brauchte Zeit für mich. Zeit um mich hoffentlich darauf vorbereiten zu können, was kommen würde. Mit langsamen Schritten stieg ich die Stufen nach oben. Die Holzbalken quietschten und knackten, während ich mich die Stufen hinaufkämpfte und der Wind draußen mehr und mehr pfiff und den Turm leicht ins Schwanken brachte.

Der kleine Raum an der Spitze des Turms war behaglich, aber kalt. Er hatte keine Glasfenster, sondern nur Löcher in den Wänden, durch die der Wind hindurchpfiff. In einer Ecke, die geschützt vom Wind war, lagen einige dünne Decken und Strohsäcke, aus denen sich meine Schwestern und ich uns immer wieder Lager gebaut hatten. Inzwischen kam ich nur noch selten nach hier oben. Der Geruch von Stroh, nasser Wolle und Regen erfüllte den Raum. Ich wickelte mir eine der Decken um die Schultern und zog einen der Strohsäcke zu dem Fenster, das in Richtung Nordwesten zeigte. Von dort würde Vater kommen. Nur schwer konnte ich die Wege durch den Regen erkennen. Der Wind kam zum Glück aus Südwest und peitschte mir die Regentropfen nicht ins Gesicht. Der Herbst kam. Die Bauern beteten vermutlich gerade um ihre Ernte. Ich faltete meine Hände und murmelte das Vaterunser. Würde es eine schlechte Ernte geben, sah es auch für uns nicht gut aus.

Ich zog lose Fäden aus der Decke. Was würden die Verhandlungen wohl ergeben? Musste ich wirklich ausziehen, nur damit Vater bekam, was er wollte? Oder würde sich der Fürst am Ende durchsetzen und mich doch Sebastian heiraten lassen, beziehungsweise dazu zwingen? Alle diese Fragen vernebelten mein Gehirn, während ich angestrengt auf den Weg starrte, auf dem Vater heimkehren würde.

Als die Sonne hinter den Wolken sich langsam dem Horizont näherte, gab ich schließlich auf. Es war zu dunkel geworden um noch etwas zu sehen. Ich ließ die Decke wieder auf das Lager fallen und streckte meine steifen Glieder. Angespannt kletterte ich die steilen Treppenstufen wieder nach unten und rannte über den Hof zu Helene in die Küche.

Eine wohlige Wärme empfing mich. Über dem Feuer hing ein Topf mit dampfender und blubbernder Suppe, die eindeutig nach Hühnchen roch. Davor saß Hedwig auf einem Schemel und streckte die Hände in Richtung der Flammen. Ihre Haare waren nass und sahen dunkelrot aus und auch ihre lederne Reiterkleidung war durchnässt, aber trocknete allen Anscheins nach wieder langsam. Auf einem weiteren Schemel neben ihr saß Thea und kuschelte sich dicht an sie.

„Ach, da bist du." Helene schnitt Brot und warf mir einen besorgten Blick zu. „Setz dich zu Hedwig, dann wird dir warm. Euer Vater lässt auf sich warten." Nachdem sie das Brot in einen Korb gelegt hatte, drückte sie diesen Thea in die Hand. „Sei so lieb und stell ihn auf den Tisch."

Ich setzte mich auf den jetzt freien Schemel am Feuer und genoss die Wärme, die in meine Knochen kroch. Als Thea durch die Tür verschwunden war, wandte Helene sich an mich.

„Mach dir keine zu großen Sorgen. Dein Vater wird dich keinen Jungen heiraten lassen, den du nicht ausstehen kannst." Ich warf Hedwig einen vernichtenden Seitenblick zu. Sie hatte das doch nicht allen Ernstes Helene erzählt? Das war meine Sache und absolut nicht ihre! Hedwigs Mine blieb unverändert und sie fixierte weiter die Flammen.

Hinter uns öffnete sich die Tür. „Papa ist da." Vernahm ich Klaras Stimme. Ohne ein Wort nahm Hedwig meine kalte Hand von meinem Knie und drückte sie. Mein Herz schlug inzwischen irgendwo in meinem Hals. Jetzt wurde es ernst. Mit zittrigen Knien stand ich auf und ging hinter ihr her in den Speisesaal.

Katzenstein || Woodwalkers FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt