Kapitel 6

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Ein letztes mal beiße ich mir auf die Unterlippe, bis ich die Tür aufstoße. 

"Raus!", rufe ich. Bitte, Alex, tu es einfach. Ich höre ein leises 'Okay' im rauschen des Wassers, dann fließt kein Wasser mehr. Ich höre, wie nass auf nass kommt, dann plätschernde Schritte. "Du darfst dich umdrehen.", sagt Alex, mit seiner dunklen, ruhigen Stimme. Langsam drehe ich mich um, da ich immer noch misstrauisch bin. Wenn er es sich leistet, in meiner Unterwäsche zu wühlen, wer weiss, was er sich dann noch leistet, denke ich. Zu meiner Erleichterung trägt er ein Handtuch um die Hüften. Ich ignoriere seinen durchtrainierten Oberkörper und schaue ihm unbeeindruckt ins Gesicht. Er funkelt mich an und grinst, was ich überhaupt nicht verstehe. Zum Abschied zwinkert er mir zu und verlässt das Bad. 

In Rekordzeit dusche ich, benutze dabei Alex' nach Minze riechendes Duschgel, ziehe mich an und renne dann schnell in mein Zimmer, jedoch nicht, ohne mit erstaunten oder neidischen Blicken bombardiert zu werden. Als würde es mir nichts ausmachen, tappe ich ins Zimmer. Alicia ist wahrscheinlich schon weg, also packe ich nur schnell meine Schultasche und rase in Raum 63 zum Englischkurs. Pünktlich zum Klingeln komme ich erleichtert an und verbringe so einen neuen, langweiligen Schultag. Gott sei dank ist morgen Freitag, denke ich und mir huscht ein leichtes Grinsen über die Lippen. FREITAG, MORGEN! Vor lauter Vorfreude vergesse ich ganz, wohin ich laufe und stoße schon wieder gegen jemanden. Diesmal ist es aber nicht Alex, sondern Liam. Erstaunt sehe ich ihn an, so wie er mich. Sein linkes Auge ist leicht geschwollen und violett. An seiner Stirn klebt ein Pflaster und seine Augen mustern mich mit zornigem Blick. Als ich merke, dass wir uns schon eine Ewigkeit nur ansehen, laufe ich an ihm vorbei, ohne Tschüs zu sagen. Hätte er sowieso nicht verdient, dieser Mistkerl. 

"..Und ich hab' schon ein schönes Kleid für dich gesehen, du musst es nur noch kaufen!", quietscht Alicia übermutig. Sie hat gar nicht gemerkt, dass ich heute Nacht weg war und ich möchte es ihr auch gar nicht erzählen. Ich nicke interessiert. "Wir können ja später dahin gehen, dann probier' ich es an.", schlage ich freundlich vor. Alex kaut sein Essen gemütlich und macht sich lächerlich darüber, dass Alicia so einen Wind macht. "Na schön", sagt er irgendwann, "Ich mische mich nicht mehr in deine Klamottensucht ein, aber dafür gehst du nicht mit diesem 'Josh' " Er betont den Namen, als wäre er dreckig, "Hast du mich verstanden?", fragt er dann auffordernd. Er stellt die Frage so, dass nur ein Lebensmüder 'Nein' sagen würde. Alicia rutscht auf dem Stuhl nervös hin und her und dann merke ich, dass sie 'Nein' sagen wird. Ich sollte mich nicht einmischen, ich weiss. Aber ich will nicht, dass Alicia Ärger von ihrem Bruder bekommt, also lenke ich ab. "Können wir gehen? Ich glaube mir ist schlecht, vielleicht werde ich Krank.", sage ich glaubhaft und verziehe dabei mein Gesicht. Ich bin eine spitzen-Lügnerin! Alex sieht mich durchbohrend an, nickt dann aber mit dem Kopf. "Geht", sagt er, "Ich bezahle und komme nach." Als wir das Restaurant verlassen flüstert mir Alicia ein unhörbares 'Danke' ein und ich lächele. Gern geschehen. Im Zimmer schlage ich zum hundertsten Mal vor, dass wir lernen sollten, doch irgendwann überredet mich Alicia dann doch dazu, das Kleid zu kaufen. 

Es ist rot. Knallrot. Schlicht, aber ich schwöre euch, es ist wunderschön! Alicia scheint einen tollen Geschmack zu haben. Mit Dads Geld bezahle ich die etwas über 100 Mäuse und wir verlassen den Laden. Ich sage Alicia, dass mir das Kleid wirklich sehr gefällt und ich ihr dankbar bin, nicht selbst nach einem suchen zu müssen und sie lächelt mich amüsiert an. Wir schlendern noch durch die Stadt, als sich Alicia plötzlich räuspert. "Du, Ellie?", fragt sie. Ich sehe sie an, als Zeichen dafür sie solle weiterrreden und das tut sie. "Was läuft da eigentlich? Zwischen dir und meinem Bruder?" Ich verschlucke mich fast an meinem Milchshake, den ich mir vorhin gekauft habe und sehe sie dann entgeistert an. "WAS?", ist das einzige, was ich herausbringe. Alicia kann an meinem Anblick nicht mehr Ernst bleiben und prustet auf einmal los. "Hast du was getrunken?", frage ich amüsiert und lache mit. Nach unserem Lachanfall reisst sie sich wieder zusammen und hakt nochmal nach. "Jetzt ehrlich, da läuft doch was!", wirft sie mir vor und ich schüttele unglübig denn Kopf. "Du spinnst!", lache ich. Nach einer langen Busfahrt laufen wir über den Campus des Colleges und lassen uns auf einer Decke nieder. Nebeneinander liegen wir auf dem Bauch. Irgendwann frisst mich meine Neugier auf und ich frage: "Bist du verliebt? In Josh?" Ich habe Josh noch nie gesehen, aber ich habe darauf geachtet, dass uns niemand hört. Alicia zieht hörbar die Luft ein. "Nein! nein.", sagt sie dann. "Bin ich nicht.", fügt sie flüsternd hinzu. Ich schüttele meinen Kopf, weil ich nicht verstehe. "Warum, warum willst du dann unbedingt mit ihm auf den Ball? Ich meine, nachdem was Alex erzählt hat..", frage ich nach. "Das ist nicht so.. Ich.. Ich war nie in Josh verliebt, glaub mir. Eine Zeit lang habe ich ihn sogar gehasst.", erklärt sie endlich. "Und?", flehe ich um eine ausgeprägtere Antwort. "Und ich liebe ihn auch jetzt nicht. Hör zu: Ja, ich hatte was mit Josh am Laufen und ja, er hat mich damals verlassen und ja, mir gings danach ziemlich dreckig." Alicia erzählt und macht immer wieder Pausen. Ich weiss, dass ihr das unangenehm ist, doch ich hasse es, die unwissende zu sein, deshalb lasse ich sie weitererzählen. "Okay doch, ich war mal eine kurze Zeit lang in ihn verliebt. Aber jetzt nicht." Sie hält an und sieht mich an. Ihre karamellaugen leuchten im Sonnenschein und sehen mich bedrückt an. "Er ist nur der einzige der mich fragt, der mich je gefragt hat.", klärt sie traurig auf. Ich will weder weiter nachfragen, noch sie aufmuntern. Es gibt Leute, die werden immer von jedem gefragt, Leute die das nicht interessiert, ob sie nun gefragt werden oder nicht und dann gibt es Leute wie Alicia. "Avisieren?", frage ich nach einer Weile, weil wir wirklich dringend Lernen müssen. "Ähm, kannst du mir einen Satz dazu geben?", fragt Alicia verzweifelt. "Ja, der Lehrer hat zum Beispiel avisiert, dass die Vorprüfungen schon nächsten Monat starten", sage ich etwas sarkastisch. "Ankündigen", murmelt sie leise und ich nicke lächelnd. "Nivellieren?" "Satz, bitte", fordert sie. "Es scheint unmöglich, den unterschied zwischen dir und mir zu nivellieren.", lache ich über meine kreativität. Alicia lacht liebevoll mit und sagt: "Ausgleichen."

Gegen sieben Uhr wird Alicia langwelig und sie bittet mich, ein anderes mal zu lernen. Ich ergebe mich und frage sie, was sie denn noch tun möchte. "Was machst du denn, wenn dir langweilig ist? Außer lernen, meine ich.", fragt sie. "Rennen", antworte ich knapp. Erstaunt öffnen sich ihre Augen zu großen, runden Bällen, aber dann verfeinern sich ihre Züge und sie sagt: "Na gut, lass uns rennen." Deshalb ziehen wir unsere Sportsachen an. Ich schnappe mir meinen drei-viertel Tight und ein lockeres Shirt. Alicia zieht eine Jogginghose und einen Sport-BH an und wir machen uns auf den Weg. Wir laufen den selben Weg, wie ich gestern und wir reden über alles mögliche. Vorbei an den Bäumen, den Hochhäusern, den Straßenlaternen, dem Park und den Fast-Food Restaurants. Irgendwann bettelt mich Alicia an, zurück zu gehen, weil sie keine Kraft mehr habe und gleich tot umfallen würde, weshalb wir wieder zurücklaufen. Die letzten zweihundert Meter rufe ich: "Wer zu letzt kommt, hat verloren!" Und sause davon. Hinter mir höre ich Alicia laut aufstöhnen und dann schnellere Schritte auf mich zukommen. Ich grinse siegreich und renne schneller. "Erster!", kreische ich, als ich vor 324 die Tür aufstoße. "Oh mann!", ruft Alicia hinter mir erschöpft. "Bist du Wettläuferin oder sogar die weibliche Usain Bolt?", fragt sie zwischen ihren hastigen Atemzügen. "So n' Gemisch aus beidem irgendwie", grinse ich. Dann prusten wir beide wieder los und müssen immer wieder von neu lachen, weil wir uns nicht halten können.

Wo die dunkelheit istWo Geschichten leben. Entdecke jetzt