Kapitel 5

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,,Paps und ich hatten nie die beste Beziehung zueinander. Wir redeten nur über Familienkram und wir kannten uns nur, weil wir in denselben vier Wänden lebten. Ich wusste, was er über die AfD, CDU und SPD dachte, aber ich weiß nicht, wie er dachte. Ich weiß nicht, wie er liebte, wie er fragte, wie er Dinge anging und sah. Dafür weiß ich, wie lange er die Zähne putzte, wann er sich rasierte und wie er aussah, wenn er Zeitung las. Du kannst jemandem physisch extrem nah und emotional Welten entfernt sein. Vielleicht waren unsere Welten auch direkt nebeneinander. Vielleicht wussten wir das, aber wir haben es so lange ignoriert, bis wir die andere Welt scheinbar nicht mehr wahrgenommen haben. Vielleicht hat er irgendwann versucht, meine Welt wieder zu sichten, aber mittlerweile war sie vielleicht wirklich weggetrieben."

,,Vielleicht habt ihr auch auf derselben Welt gelebt und standet Rücken an Rücken und habt stets in entgegengesetzte Richtungen geblickt.", erwidere ich sarkastisch. ,,Kann auch sein.", sagt Cassian seufzend und zieht die Finger aus der Erde. ,,Jedenfalls", Cassian starrt ohne Fokus hinter mich und sticht Daumen, Zeige- und Mittelfinger wieder in die Erde, ,,hätte ich es gerne versucht. Ich habe es mir vorgenommen. Ich dachte immer, mach ich noch, er rennt ja nicht weg.", Cassian lacht sardonisch auf, ,,genau das hat er gemacht. Oder ich, kann auch sein. Trotzdem, ich hätte es machen sollen, aber weißt du", Cassian dreht den Kopf leicht und fokussiert nun mich. Mit durchdringlichem Blick schaut er mir in die Augen, ,,die physische Nähe hat entfremdet. Wir waren gleich gepolt, es war als stößen wir uns gegenseitig ab. Es ging nicht mehr."

,, Alles ist möglich, es ist nie zu spät, um etwas zu ändern, geht nicht gibt's nicht", äffe ich die lächerlichen Floskeln der Gesellschaft nach. Cassian nickt traurig und schaut wieder gedankenverloren auf den restlichen Friedhof. Ich stehe auf, springe von Grabstein zu Grabstein, gebe ihm Raum, lass ihn allein. Während meine Füße sich von den Steinen abstoßen, durch die Luft fliegen und dann wieder auf einen anderen Grabstein klatschen, denke ich darüber nach, warum die Menschen sich so einen Stuss ausdenken. Wollen sie motivieren? Wenn man dann aber erlebt, wie es wirklich ist, dann tut es doch noch mehr weh, man ist deprimierter und hat weniger Vertrauen in diese Sonnenscheinsprüche. 

Ich bleibe stehen und schenke meiner Umwelt wieder Beachtung. Erstaunt stelle ich fest, dass sich meine innere Wut in schnellen und kräftigen Sprüngen bemerkbar gemacht hat und ich jetzt an einem silbernen Metalltor stehe, durch das einige Leute strömen. Ich gehe an dem großen Schild vorbei, auf dem fett ,,Eingang" steht und nutze ihn als Ausgang.


mit Toten sprechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt