Trauer

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Die Nacht war quälend lang, traurig und frustrierend gewesen. Laura hatte sich noch stundenlang im Bett umher gewälzt, dementsprechend wenig hatte sie geschlafen. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte - von den Schritten und Stimmen der anderen Mädchen wurde sie für gewöhnlich nicht geweckt. Doch an diesem Morgen hörte sie gedämpfte Stimmen vor ihrem Vorhang. Sie hielt die Augen geschlossen, um wenigstens noch ein paar Minuten der Entspannung zu bekommen, die sie so dringend benötigte.

Als jemand ihre Vorhänge zurückzog, reagierte sie erst gar nicht. "Hey, der Schönheitsschlaf ist vorbei!", hörte Laura Lilys Stimme. Laura wusste, was nun folge und hielt die Decke fest um sich geschlungen, sodass diese ihr nicht einfach weggezogen werden konnte. Doch die erwartete Schlacht blieb aus - stattdessen spürte sie, wie sich ihre Matratze senkte. "Laura?" Lilys Stimme klang vorsichtig, als wisse sie nicht, wie sie mit ihr umgehen sollte. Zur Antwort öffnete Laura ein Auge. "Hör' Mal, ich weiß, es ist nicht einfach, aber wir haben in zehn Minuten Zauberkunst." - "Aha", gab Laura nur zurück. Dass Lily sie so lange schlafen ließ, war eine absolute Seltenheit und sollte mit drei roten Kreuzen im Kalender belohnt werden. Doch ihr war gerade gar nicht danach zumute. "Hey", versuchte sie es wieder, was jedoch nur mit einer schwungvollen Umdrehung und einer Decke über den Kopf beantwortet wurde. "Verdammt", hörte sie Lily unter den schweren Stoff nuscheln, "Bald sind Prüfungen!" - "Lils, geh doch schon mal vor. Ich regle das hier." Kates süffisante Stimme verhieß ganz und gar nichts Gutes, doch Laura war selbst dafür gerade absolut nicht empfänglich. Lily hatte eine sanfte Art und Weise sie aus dem Bett zu bekommen, während Kate zwar einen sanftmütigen Charakter hatte, jedoch absolut erbarmungslos war. "Okay, Süße", hörte sie, wie Kate begann, "Ich weiß, es ist schwer. Aber das hier muss jetzt sein." Mit einem Ruck wurde ihr die Decke aus den Händen gerissen. Die Kälte traf sie wie ein Schlag, ließ sie sich auf ihrer Matratze zusammenrollen. "Wir haben dir Frühstück eingepackt", fuhr Kate unbeirrt fort, "zieh dich an und komm mit." In ihrer Stimme konnte Laura den deutlichen Unterton einer Drohung feststellen, aber sie fühlte sich einfach nicht danach. Am Liebsten würde sie den ganzen Tag in ihrem Bett liegen, ihre Decke über den Kopf gezogen und heulen. Warum ließ man sie nicht einfach in Ruhe?!

"Okay, Darling, du willst es nicht anders." Laura konnte hören, wie Kate sich langsam von ihrem Bett entfernte. Sie entspannte sich wieder etwas. Ohne die Augen zu öffnen tastete sie mit ihren Händen nach ihrer Decke. Sie erspürte ein Stück Stoff und zog es sich über ihre Schultern. Allerdings waren ihre Beine noch immer frei. Hatte Kate die Decke etwa schrumpfen lassen? War das ihre brillante Idee, sie vom Weiterschlafen abzuhalten? Laura nahm einen tiefen Atemzug. Nein, dafür war Kate zu schlau. Aber solange sie sich etwas anderes einfallen ließ, würde Laura noch zwei, drei Minütchen schlummern. Zurück ins Land der Träume, zurück in die Unbeschwertheit ...

Laura spürte, wie der Schlaf sie wieder zu übermannen drohte als ein Schwall Wasser sie traf. Sofort war sie hellwach, setzte sich auf, atmete schwer. Kat hatte ohne Vorwarnung nicht nur einen Eimer, sondern gleich ein ganzes Fass über ihr Bett entleert. Triefendnass saß sie auf ihrem völlig durchnässten Bett, entrüstet, zitternd und fröstelnd. "Nun, da du schon mal geduscht bist", lächelte Kate sie an, während das leere Fass neben ihr landete, "kannst du dich ja anziehen." Laura öffnete den Mund, bereit, ihr irgendeine Gemeinheit an den Kopf zu werfen - doch ihr wollte einfach nichts passendes einfallen. So schloss sie ihn wieder, nur, um ihn wieder zu öffnen. "Wenn ichs mir recht überlege ..." Kate sah sie schelmisch an, was nichts gutes verhieß, "Kannst du eigentlich auch gleich so mitkommen." Sie ließ ihren Zauberstab in ihren Fingern kreisen. "Ist ja gut!", räumte Laura endlich ein und schwang ihre Beine vom Bett, "Ich steh' ja schon auf!" Das Bild, wie Kate sie durch halb Hogwarts zerrte, während sie ihren pinken, mit Rüsch verzierten Hasenpyjama anhatte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Und sie kannte ihre beste Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie ihr das antun würde. Laura klaubte sich ihren Zauberstab vom Nachttisch und verschwand ins Badezimmer, um sich mürrisch fertig zu machen. Sie ignorierte Kates wildes Klopfen gegen die Tür (He! wir müssen los!), wusste jedoch selber, dass es höchste Zeit wurde sich auf den Weg zum Unterricht zu machen. Und so verzichtete sie auf das sonstige morgendliche Badezimmerritual. Sie trocknete sich lediglich ihre Haare, kämmte sie, steckte sie hoch und zog sich ihren Umhang an. Dann blickte sie kurz in den Spiegel.

Sie sah furchtbar aus. Tiefe Augenringe hatten sich gebildet, ihre Haut war ganz rot von den salzigen Tränen letzter Nacht. Ihre schwarzen Haare waren trotz der Hochsteckfrisur noch immer wild durcheinander. Sie schüttelte seufzend den Kopf. Sollte doch jeder sehen, dass es ihr nicht gut ging. Einen Tag konnte sie sich mal gehen lassen. Ein letztes Mal schloss sie ihre Augen, dieses Mal jedoch nicht, um wieder ins Land der Träume zu geraten, sondern, um ihre Kräfte zu sammeln. Einen Atemzug benötigte sie noch. Sie spürte die stickige Luft des Badezimmers in ihrer Lunge, fühlte, wie ihre Brust sich hob und wieder senkte. Der winzige Sauerstoffgehalt gab ihr die nötige Kraft.

Professor Flitwick störte es nicht, dass sie die ersten fünfzehn Minuten des Unterrichtes versäumten, wohl aber Lily, die ihr einen vorwurfsvollen Blick schenkte. Laura stetzte sich in eine der hinteren Reihen, dicht gefolgt von Kate, die sich sofort an den Zauber machte, den sie in dieser Stunde üben sollten. Laura konnte beim besten Willen nicht sagen, was sie nun für einen Zauber üben sollten. Sie saß einfach nur da, während sie die Schüler anstarrte, die ihre Übungen wiederholten, immer und immer wieder. Tief in ihrer Trauer versunken sah sie ihren Vater immer und überall, auf was auch immer ihre Augen gerade ruhten. Jeder Luftzug, den sie vernahm, hörte sich an wie die Stimme ihres Vaters.

Stumme Tränen rannen über ihr Gesicht. es fühlte sich an, als wäre ein riesiges Loch in ihre Brust gerissen, welches sich immer weiter ausbreitete. Die Leere fraß sie regelrecht auf. Sie verspürte keinen Hunger, nur unendliche Trauer erfüllte ihr Herz. Die Stimmen der anderen hörte sich an wie ein weit entferntes Summen, die Buchstaben im Buch tanzten vor ihren Augen umher. Sie war einfach nur froh, dass Professor Flitwick sie nicht ein einziges Mal aufrief.

Von Stunde zu Stunde schleppte sie sich, ohne wirklich anwesend zu sein. Sie verpasste die Explosion in Severus Snapes Kessel (James und Sirius hatten ihn in der vergangenen Nacht mit Feuerwerkskörpern versehen), verpasste, wie Kate durch einen Geist spazierte (Iiiihh! Wie frostig!) oder wie Peeves sich mit dem blutigen Baron einen Schwertkampf lieferte. Sie bekam auch das Gespräch zwischen ihren Freundinnen nicht mit, hörte Sirius nicht - hatte selbst für den täglichen Zickenkrieg zwischen Lily und James kein Gehör. Sie existierte lediglich. 

So verging der erste Tag, dann der zweite. Eine Woche verstrich, in der Laura kaum ansprechbar war. Sie nahm die Welt um sich herum nicht wahr. Erst McGonagall schaffte es, sie aus ihrer tranceartigen Starr zu holen, indem sie ihr eröffnete, dass am morgigen Tag die Beerdigung ihres Vaters stattfinden würde. Es sei ihr freigestellt zu gehen. Ohne auf die besorgten Blicke ihrer Freundinnen zu achten stürzte sie in ihren Schlafsaal, um sich die passende Kleidung zurecht zu suchen.

Etwas elegantes, etwas schwarzes, etwas, was sie mit ihrem Vater verband ... Ihre Wahl fiel auf ein schlichtes, schwarzes Kleid, hohe Schuhe und einen wärmenden Umhang. Sie lächelte. Das erste Mal seit dem Tod ihres Vaters spürte sie so etwas wie Erleichterung in sich aufsteigen. Erleichterung darüber, das trostlose Schloss zu verlassen, Erleichterung, ihrem Vater die letzte Ehre erweisen zu können, Abschied zu nehmen. 
Sie schulterte ihre Tasche, ging zurück in den Gemeinschaftsraum, wo ihre Lehrerin auf sie wartete. "Zwei Tage", ermahnte sie Laura mit einem strengen Blick, "dann sind Sie wieder hier." Laura nickte. McGonagall überreichte ihr ein Säckchen Flohpulver und verließ die Gryffindors.

Laura verabschiedete sich von ihren Freundinnen, nahm sie in den Arm und bedankte sich für ihre aufmunternden Worte und ihre liebevolle Art. "Ihr seid die besten", murmelte sie mit tränenerfüllten Augen. "Danke, dass ihr immer für mich da seid!" Lily, Liz, Kate und Mary sahen sie nur an. Sie waren besorgt, das konnte Laura in ihren Gesichtern lesen. Doch sie lächelte aufmunternd. "Ich bin bald zurück." Mit diesen Worten wandte sie sich von ihnen ab und trat zum Kamin. Der Ruß stieg ihr in den Mund, erstickte ihre Lunge. Laura hustete die Asche aus ihrem Mund, wartete, bis sie genug Luft zum sprechen hatte, bevor sie das Säckchen nahm und es umstülpte. Während sich die Flammen grün färbten, stieg sie über das Gatter, trat in die wärmenden, tanzenden Flammen und sprach laut und deutlich: "Croft's Anwesen!" 

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