Kapitel 4.1: Erwachen

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Es war kalt. Kalt und nass.

Siraj schlug die Augen auf. Dunkelgraue Wolken hatten sich über ihm gebildet. Von der Sonne war weit und breit keine Spur. Leichter Regen fiel auf ihn herab.

Mit einem Stöhnen richtete sich der Heiler vorsichtig auf. Sein Kopf schmerzte. Die Fellkleidung, die er anhatte, hatte das kühle Nass aufgesogen, war schwer und feucht.

Der Geruch von Tod und Verwesung stieg Siraj in die Nase. Es roch wie vor zwei Tagen in der Trockenhütte. Als seine Augen sich an die dunklen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah er auch, warum.

Die Lichtung war ein einziges Schlachtfeld. Diverse Bäume lagen auf der Erde, den der Regen mittlerweile in schlammigen Matsch verwandelt hatte. Überall bedeckten Zweige, gefüllt mit braunen Blätter und Nadeln, den Boden. Und dazwischen lagen sie. Leichen.

Zerfetzte Körper, abgetrennte Extremitäten. Mit einem Wanken richtete sich der Heiler zur Gänze auf. Ihm war übel. Die Kopfschmerzen nahmen mit jeder Sekunde zu. Sein Magen rumorte.
Er erkannte im Halbdunkel das Gesicht von Gas, dessen Körper ganz in seiner Nähe lag. Siraj trat näher an ihn heran. Seine Augen. Diese eigentlich so lebendigen Augen einer Frohnatur - aufgerissen in dem Wissen, nicht mehr auf der Erde verweilen zu können.

Der Regen hatte sie glasig werden und das Blut in hellroten Bahnen seine Wangen hinablaufen lassen.

Siraj wandte seinen Blick ab, ging unsicheren Schrittes fort, stolperte beinahe über die zertrampelte Leiche von Jikas. Doch er hatte nur Augen für eines.

Diese unsichere Erinnerung beherrschte seine Gedanken, dominierte alles in seinem Kopf.
Es dauerte nicht lange, bevor Siraj die Realität dessen sah, was er zunächst für einen schlimmen Traum gehalten hatte.

Basfas war übel zugerichtet. Sein Torso lag mehrere Meter von den unter einem dicken Baumstamm begrabenen Beinen, tiefe Wunden säumten die Haut. Eingeweide hingen aus den zerfleischten Überresten seines Bauchs, sein Gesicht war beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Kraftlos sank Siraj auf die Knie.

Es war, als wäre die Welt stehengeblieben. Der Regen fiel lautlos auf den Ort des Geschehens.
Der Heiler spürte nicht, als er in der Mischung aus Schlamm und Blut leicht einsank. Er starrte nur auf die menschenunwürdigen Überreste seines Schwiegervaters.

In Jurano glaubte man, nach dem Tod würde man zum Himmel aufsteigen, ein Teil der Gestirne werden. Man verbrannte die Toten und verstreute ihre Asche im Wind. Der Heiler hatte diese Vorstellung immer gemocht: Der Legende nach waren sie aus dem Himmel gekommen, also kehrten sie beim Ableben dorthin zurück. Doch nun erschien es ihm deprimierend.

Nala hatte ihren Mann verloren. Sianna hatte ihren Vater verloren. Sojas einen guten Freund.
Vielleicht konnte Basfas sie alle von dort oben sehen, aber sie hatten nicht einmal Gelegenheit gehabt, sich zu verabschieden.

Es knackte laut. Sofort war die Stille vorbei. Der Regen prasselte ungleichmäßig auf die umstehenden Bäume, Siraj hatte hämmernde Kopfschmerzen, Kältete breitete sich von seinen im Matsch befindlichen Knien auf seine Beine aus.

Doch er bewegte sich keinen Millimeter, hielt vor Anspannung sogar den Atem an.

War die Bestie noch hier?

Siraj verspürte mehr als Angst. Blanke Panik machte sich in seinem Inneren breit. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Geräuschkulisse und die wenigen visuellen Eindrücke, die er durch die zerstörte, in graues Licht gehüllte Lichtung, erhalten konnte.

Alles schien ruhig.

Die Panik verschwand langsam - der Eindruck blieb: Er musste hier sofort weg!

Doch wohin? Siraj war kein Spurenleser, kein Jäger. Sie waren eine ganze Weile gelaufen, bevor sie zu diesem Ort kamen. Wie sollte er wieder zurück zum Dorf finden?

Der Regen hatte die Spuren vermutlich weggewaschen.

Siraj wusste, dass seine Überlebenschancen im Wald nicht besonders hoch waren, er hatte weder genügend Kenntnisse über essbare Früchte, Pilze und Kräuter, noch ausreichend Ahnung von der Jagd. In seiner tropfnassen Fellkleidung würde er aber ohnehin nicht weit kommen - früher oder später würde die Kälte ihn töten.

War er wirklich der einzige Überlebende? Es musste doch noch jemanden geben!

Irgendjemand...

Was war mit Ruil? Kar? Rajos? Jaira? Hatten sie überlebt?

Er wusste es nicht, er konnte es nicht wissen, aber er wollte sie auch nicht suchen. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie bereits weg oder tot waren, aber hier nach mehreren Leichen zu suchen, zerfetzte Körper umzudrehen, entstellte Gesichter zu identifizieren und trotzdem keine Gewissheit über den letztlichen Verbleib zu haben, da auch einfach ein Baum auf sie gestürzt sein könnte - das klang nicht gerade attraktiv. Basfas war tot, vielleicht war es aber irgendwem gelungen, zu entkommen. Er wollte sich nicht jede Hoffnung zerstören. Und vielleicht war noch jemand in der Nähe.

Siraj entschloss sich nach kurzem Überlegen dann doch dazu, einmal laut »Hilfe« zu sagen, mehr traute er sich nicht, da er das Tier nicht anlocken wollte.

Es passierte nichts. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Weiterhin nur der stärker werdende Regen.
Nein, nein, nein, er würde niemals alleine zurückfinden! Er brauchte Hilfe! Er musste es riskieren.

»Hilfe!«, brüllte Siraj laut.

Sein Schrei verhallte langsam in der Lichtung.

Und wieder nur das Prasseln des Regens.

Niemand reagierte. Kein Tier, aber auch sonst keiner. Es war, als wäre Siraj völlig allein im Wald.

»Ruil!«, rief er.

Keine Antwort.

»Kar!«

Keine Antwort.

»Bitte, irgendjemand!«

Keine Antwort.

Er fröstelte. Wie spät war es? In der Nacht wurde es mittlerweile ziemlich kalt. Mit dem matschig-nassen Fell konnte er wohl kaum bis zum Morgen überstehen.
Nacht... Morgen...

Da erinnerte sich Siraj an etwas, was Ruil ihm über Orientierung beigebracht hatte. Die Sonne zog jeden Tag ihre Bahnen gleich. Man konnte sich an ihr orientieren.

Siraj bemerkte ein kleines Hochgefühl. Das war es!

So konnte er wieder zurück. Das Dorf warnen.

Er versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wo die Sonne gestanden hatte, als sie losgelaufen waren. Nachdenklich blickte er in den Himmel - das Gefühl war sofort verschwunden.
Wolken. Nichts als tiefgraue Wolken. Es war vollkommen bedeckt, nicht ein kleiner Teil des Himmels war zu sehen, von der Sonne ganz zu schweigen.

Und es sah nicht so aus, als würde sich das Wetter in naher Zukunft bessern.

Er konnte nicht länger auf ein Wunder hoffen - er musste einfach in irgendeine Richtung gehen und hoffen, dass er richtig lag.

Das war wohl das Beste.

Doch er wollte nicht ohne Ausrüstung los. So durchsuchte er die immer matschiger werdende Lichtung nach Waffen. Er fand bei der Leiche eines anderen Jägers einen Speer, den er aufnahm.
Dann entschied er sich für eine Richtung - die einzigen für Siraj noch identifizierbaren Spuren waren die großen des Untiers, die von der Waldblöße weg führten.

Der Heiler entschied sich dazu, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Nur nicht dem Wesen hinterher.

Und so entfernte er sich von dem kleinen Schlachtfeld, die Leichen seiner lebenslangen Freunde und Bekannten im Matsch liegen lassend.

Unter dem steten Prasseln des Regens betrat er den dunklen Wald.

Farben des ArkanenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt