L U A N
Der kühle Wind fährt durch meine Haare und ich schließe für einen Moment die Augen.
Dann trete ich von der Treppe auf den Fußweg, lasse die Mongrove hinter mir. Neben mir, im Licht einer flackernden Straßenlaterne, steht eine Büste von James Mongrove, dem Gründer. Er war ein Andersblüter. So wie wir. Aber das ist unwichtig, denn niemand weiß es.
Irgendetwas knistert in der Hecke und ich schaue mich misstrauisch um. Niemand da. Aber man kann nie wissen...
»Mick?« frage ich prüfend in die Dunkelheit. Ein weiterer Windstoß verwuschelt meine Haare.
Ich verdrehe die Augen und verschränke die Arme.
»Komm schon, Mick, ich weiß, dass du da bist!«
»Als wärst du allwissend... Wie hab ich mich verraten?« fragt eine herrenlose Stimme aus Richtung der Laterne.
»Du solltest aufhören, allen die Haare zu verwuscheln.«Die Luft neben mir beginnt im flackernden Licht zu flimmern.
Langsam sind Schlieren von Micks Gesicht zu sehen. Seine braunen Augen zwinkern mir zu und seine beinahe schwarzen Dreadlocks formen sich mitten in der Luft.
Ein paar Herzschläge später steht er neben mir.
»Also, das ist die Kleine? Echt süß« sagt Mick und deutet die Treppe nach oben.
»Sie heißt Avery« entgegne ich,
»Und da läuft nichts, falls du das damit andeuten wolltest.«
Er zieht die Augenbrauen nach oben.
»Alter, du bist direkt vom Hyde Park hier her und dann hast du sie umarmt!« sagt er grinsend.
»Da läuft nichts...« äfft er mich nach.
Ich verstehe nicht, wie er so befreit sein kann. Jemand wurde getötet und wir alle sind in Gefahr.
Wie kann man eigentlich so leichtsinnig sein!? Mick hatte sich eben einfach verwandelt, Mitten auf der Straße, ungeschützt! Er sollte im Auto bleiben!
Ich öffne den Mund, um etwas Tadelndes zu sagen, schließe ihn aber wieder. Wut kann ich jetzt nicht auch noch vertragen.
»Komm. Ich brauch nen Drink« sage ich stattdessen und massiere mir die Schläfen.Wenig später stoße ich die Tür zu einem kleinen Pub auf. Abgestande Luft schlägt mir entgegen, aber es ist mir egal.
Mick und Ich schlängeln uns durch die hohen Tische, an denen zwielichtige Gestalten stehen, bis wir die Bar erreichen. Grünliches Licht erfüllt den Raum, was alles ein wenig schummrig wirken lässt.
Ich klettere auf einen der hohen Hocker.
Die Barkeeperin, eine stark geschminkte Frau, beugt sich zu uns rüber.
»Was darf's denn sein?«, fragt sie zwinkernd.
»Zwei Whiskey« sage ich und treffe ihre grünen Augen mit meinem Blick.
Sie nickt lächelnd und fährt sich mit der Zunge über die Oberlippe. Dann geht sie zum anderen Ende der Bar.
Irgendwo hinter uns grölt ein völlig besoffener Mann und klatscht dann mit dem Kopf auf den Tisch.
Ich schließe kurz die Augen und versuche, das alles auszublenden, hänge meinen Gedanken nach. Alles in meinen Kopf ist irgendwie verdreht und durcheinander, Menschen, Dinge, Wörter tauchen auf, nur um dann wieder in diesem Gewirr zu verschwinden... Avery...Muu Veri... Winchester...Hyde Park...Feuer...Nilay - Halt. Whiskey...Schmerz...Avery. Avery. Diese kleine Nix will mir nicht aus dem Kopf gehen. Ständig blitzt ihr Gesicht in meinem Kopf auf. Lachend. Weinend...
Die Barkeeperin klopft auf den Tisch und schiebt uns dann zwei Gläser zu.
Dann grinst sie und verschwindet am anderen Ende des Pubs, um einen schlafenden, völlig zutattoovierten Typen zu wecken.»Und die Kleine ist Eis?« fragt Mick und nimmt einen Schluck.
Ich nicke langsam.
»Sie ist eine direkte Nachfahrin von Nicholas Swann« Ich nippe an meinem Whiskey. Ein rauchiger Geschmack macht sich auf meiner Zunge breit. »Genauer gesagt die einzige...«
Mick runzelt die Stirn.
»Nicholas Swann? Der erste Nix?«
Ich nicke. Nicholas Swann war einer der ersten Andersblüter. Der erste aus Eis jedenfalls.
»Also ist die Kleine seine Urururur - was weiß ich wie viele urs - Enkelin?«
»Jep« erwidere ich und nehme noch einen Schluck.
»Und sie ist in Gefahr. Genau wie die anderen. Dieser Chuck und diese Freundin von ihr... Und eben die beiden Achtklässer und die Alte...«
Mick kneift die Augen zusammen.
»So viele auf einem Haufen?«
»Schon vergessen? Magie zieht sich an. London ist magisch. Und die Mongrove... Du weißt ja...«
Die Mongrove Academy wurde vor Ewigkeiten von Nathan J. Mongrove gegründet - ebenfalls ein Andersblüter. Er wollte einen sicheren Hafen für die verbleibenden Muu Veri schaffen und schuf den magischsten Ort in London. Jedenfalls war diese Schule zu seiner Zeit mehr von Zauber erfüllt, als jeder andere Platz. Und Magie zieht Magie an - also sind viele von uns Lebenden dort. Zumindest zeitweise.Ich mustere Mick von der Seite. Ich hatte ihn vor einer gefühlten Ewigkeit in Miami kennengelernt. Damals konnte er seine Fähigkeiten nicht kontrollieren, seine Emotionen waren viel zu stark - besonders die Angst.
Genau wie bei mir.
Aber während er sich in einen Lufthauch verwandelte, transformierte ich mich in einen Feuerteufel.
Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie mein Elternhaus in Flammen aufgeht. Ich atme schneller und greife nach meinem Glas, um den letzten Rest zu trinken.
Dann stehe ich auf.
»Gehen wir schon?« fragt Mick verwirrt.
»Ich brauch frische Luft.«* * *
Ein wenig später stehen Mick und Ich auf dem kleinen Balkon unserer Wohnung und starren in die Dunkelheit.
»Schon ne Idee, wie wir diesen Winchester erledigen?« fragt Mick.
Ich schüttele den Kopf.
»Wer weiß, wie viele Chaser es hier gibt... Ich denke, wir müssen uns bedeckt halten. Vorerst...«
Ich massiere mir die linke Schläfe. Wir müssen Avery und die anderen irgendwie da raus halten.
Unser Auftrag ist es, sie zu beschützen.
»Bleibt noch die Frage, wie du ihnen sagst, dass sie hier weg müssen...«
Mick lehnt sich vor und schaut mich fragend an.
»Winchester Bowen darf nicht erfahren, dass sie keine Menschen sind. Also machen wir vorerst nichts... Und wenn er es herausfindet, dann«, ich lasse demonstrativ meine Finger glühen. Mick nickt langsam.
»Aber unser Auftrag erfordert...«, setzt er an, aber ich unterbreche ihn.
»Der Auftrag ist mir egal! Es geht hier um Menschenleben. Diese Menschen haben eine Familie, sie haben Freunde. Ich scheiß auf den Auftrag!«
Würden wir sie hier wegbringen, wären nicht nur sie die neue Zielscheibe der Chaser, sondern auch ihre Familien...
»Solange es sich vermeiden lässt, halten wir sie da raus.«
»Warum hast du ihr dann die Magie gezeigt? Das macht doch keinen Sinn...« sagt Mick und runzelt die Stirn.
Ich rede fahrig weiter. »Sie musste es wissen. Bevor ihr das gleiche passiert wie uns!«
»Du meinst, bis sie ihr Zuhause...« Mick bricht mitten im Satz ab.
Ich atme tief durch, kämpfe gegen das heiße Brodeln der Wut und Trauer in meinem Bauch an.
»Ja. Bis sie ihr Zuhause zerstört. Bis sie ihre Familie verletzt. Tötet.«
Ich schiebe meine zittrigen Finger in die Jackentaschen.
»Tut mir leid, Luan«
Mick presst die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
Ich winke ab.
»Ist okay.«
Mein Blick bleibt an einer durch die Straßen streifenden Katze hängen.
»Es ist schließlich die Wahrheit.«
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Lifeblood - Frozen Heart
خيال (فانتازيا)› Ich spüre wie sich meine Lunge mit eiskaltem Wasser füllt und habe unwillkürlich den Drang zu brechen. Könnte ich weinen, würde ich vermutlich. Oder schreien. Da ist nichts als Angst. Angst und Finsternis. ‹ Muu Veri, Andersblüter, der Inbegriff...