III.|⊱3/2⊰

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Nach dem Frühstück und selbredend, nachdem ich Lydia angeboten, ihr bei ihren Arbeiten zu helfen, was sie verneint hatte, inspizierte ich verträumt den Speiseraum. Und obgleich Geminis Augen dem Text der Zeitung folgten, war ich mir doch in jeder meiner Bewegungen bewusst, dass sie auf das achtete, was ich tat.

Meine Finger fuhren die glatten Muster in Bilderrahmen nach; Schnörkel, Wellen und Ranken, die sich zu einem undurchdringlichen Geflecht verwoben. Längst getrocknete Ölfarben auf Leinen, die in einer solchen Kunstfertigkeit und mit solch filigranen Pinselstrichen aufgetragen worden waren, dass es den Anschein hatte, man könnte einfach in die Gemälde hineinklettern.

Sie zeigten warme Landschaften im Licht der untergehenden Sonne, Bäume, die sich unter kühlem Herbstwind neigten und altehrwürdige Gesichter, strahlend schön und ewig jung, mit Augen, die direkt in die Seele des Betrachters und darüber hinaus blicken konnten, wenn man zu lange vor ihnen verharrte.

Die Blätter in der Tapete wirkten nun nicht mehr so lebendig wie einst und als ich meine Hand auf sie legte und die grobe Textur erfühlte, da war es auch nicht, als könnte ich hindurchgreifen. Sie stand fest und wirklich vor mir. Keine Urwaldvögel sangen hinter ihren Blättern. Fasziniert von meiner vergangenen Sinnestäuschung fuhr ich die geschwungenen Linien nach.

›Bist du auf der Suche?‹, hörte ich meinen Engel mit seidiger Stimme flüstern. Ein Schauer ging durch meinen ganzen Körper, so andersweltlich hatte sie gesprochen. Als wären es tatsächlich Klänge von den fernen Himmelstoren gewesen, erfüllt von Sonne und göttlicher Güte.

Die Zeitung raschelte.

Auf dem Tisch und an den Wänden flackerten Kerzen und tauchten den Raum in schummriges Licht, gerade genug, um hinter jede noch so versteckte Ecke zu schauen. Geminis Haut wirkte in jenem Schein weniger wie Mamor und mehr wie die eines Menschen. Als würde tatsächlich echtes, menschliches, warmes Blut durch jene Adern rinnen. Ich erkannte die Andeutung eines Lächelns auf ihren rosigen Lippen.

Die Drachen und Blumen, die so wunderschön über die porzellane Oberfläche der Blumenvase tanzten, spiegelten das Flackern der Flammen.

›Verzeihung, Ma'am, könnten ich die Vorhänge öffnen?‹, fragte ich, da die Dunkelheit einen neuen Anflug von Müdigkeit über mich kommen ließ.

Geminis Lächeln verschwand und sie faltete die Zeitung zusammen.  ›Es ist ein wenig düster, nicht?‹, sie verzog unzufrieden das Gesicht.  ›Wir werden wohl bald elektrisches Licht haben, ist das nicht aufregend?‹

In ihren Augen glomm ein Funken auf, den ich dort zuvor noch nicht gesehen hatte. Jener Funken, der mich erfüllen sollte, wenn ich mein erstes Buch in Händen hielt und all die Welten entdeckte, die in der Schrift verborgen lagen.

›Feuer‹, sie schüttelte den Kopf und starrte einen Augenblick in die Kerzenflamme. In der Luft hingen ungesprochene Worte und ich erkannte ihr Zögern, doch sie sagte nichts weiter, schüttelte wieder den Kopf. Das stimmte mich nachdenklich und so beobachtete ich alles, was sie hernach tat mit besonderem Interesse.

›Ich werde Lydia bitten, die Vorhänge für dich zu öffnen.‹

Sie sagte das auf eine seltsam abschließende Weise und erhob sich noch indem sie es tat.  ›Ich werde zu Bett gehen, denke ich... Ja...‹

Was sie sagte, verlor sich, wurde immer leiser, denn sie sprach zu sich selbst. Sie verließ den Speisesaal wie ein verirrte Gespenst, glitt durch die Tür, ohne ein Geräusch von sich zu geben und schaute sich kein einziges Mal mehr nach mir um. Und obgleich ich Gemini als meine Retterin doch vergötterte, obgleich sie in meinen Träumen dieses überirdische, warme Wesen, der Geist meiner Mutter, war, empfand ich ihr Verhalten doch als beunruhigend und merkwürdig.

Kinder der Nacht (Blutchronik)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt