01 | jeansjacke

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aesthete

/ˈiːsθiːt,ˈɛsθiːt/

Substantiv:

eine Person, die Kunst und Schönheit zu schätzen weiß und dafür empfänglich ist

[ Definition nach Oxford Languages ]


Ich will nicht.

Es kam nicht oft vor, dass ich etwas nicht tun wollte. Aber wenn dem so war, dann kämpfte jede Sehne in meinem Körper dagegen an und es würde mir letzten Endes noch den Verstand rauben. Die vergangenen Nächte hatte ich damit verbracht, mich in meinem eigenen Schweiß in meinem Bett hin- und herzuwenden, wobei ich verzweifelt versucht hatte, auch nur das kleinste bisschen an Schlaf zu erwischen. Aber es waren einfach zu viele Gedanken in meinem Kopf.

Zu viele Gedanken in meinem Kopf, seitdem ich den Anruf von meinem Management bekommen hatte. Es war ein Dienstagmorgen gewesen, stockdunkel, die Sonnenstrahlen vom tristen Novembernebel erstickt. Ich konnte mich noch ganz klar an das Gespräch erinnern. Und an die Art, wie ich meine Hand auf die Brust legen musste, um sicherzustellen, dass mein Herz noch schlug.

» Ach, jetzt stell' dich nicht so an, Harry. Ihr wart für fünf Jahre Tag und Nacht zusammen, da macht dieser eine Nachmittag auch keinen Unterschied mehr. «

Verächtlich schnaubte ich in die Luft. Es ging doch hier nur um das Image und einen weiteren Moment in den Schlagzeilen. Im Showbusiness nahm niemand Rücksicht auf Gefühle, und schon gar nicht auf die derjenigen, die rund um den Globus auf Bühnen, Events und noch mehr Businessmeetings geschickt wurden.

Erst jetzt bemerkte ich, wie kalt es eigentlich war. Obwohl es Juli war, zog der Wind in kalten Strömen an mir vorbei und am Himmel deutete eine dunkle Wolkenschicht einen Sturm an. Wahrscheinlich hätte ich mir doch eine Jacke anziehen sollen. Oder zumindest einen Regenschirm mitnehmen sollen. Wie auch immer.

Ich vergrub meine Hände in den Seitentaschen meiner Stoffhose. Den Stoff der Innenseiten zog ich immer und immer wieder zwischen meine Finger, wodurch sich der Bund meiner Ärmel in meine Handgelenke kerbte.

Nur noch zweimal nach links einschlagen.

Dann wäre ich dort. Bei einem Studio, das zwischen unzähligen Kameras und Technikern aufgebaut wurde, um dem Publikum die Illusion zu geben, dass die Jungs und ich es uns in einem alten Wohnzimmer gemütlich gemacht hatten. Mit Bildern von uns an der Wand und einer Couch, die viel zu klein für uns alle war.

Die ersten Regentropfen prasselten auf mich herab. Auf mein weißes Hemd, durch das meine Haut nun hindurchschimmerte, und ein paar nasse Haarsträhnen fielen in meine Stirn. Ich zog eine Hand aus meiner Hosentasche und hielt diese daraufhin schützend über meinem Kopf, aber das half nicht viel. Hilflos sah ich mich in alle Richtungen um. Da war nicht ein einziger Wandvorsprung, unter den ich mich hätte stellen können.

Nach und nach beschleunigte ich meinen Schritt. Die Autos schwappten im Vorbeifahren das Regenwasser über den Randstein, das daraufhin meine Schuhe und Hosenbeine durchnässte. Ich kniff meine Augen zusammen und holte tief Luft. Es war naiv von mir gewesen, zu denken, dass der Tag ohnehin nicht hätte schlimmer werden können.

Unordentlich strich ich mir die Haare zurück. Ein paar Regentropfen fielen mir ins Gesicht, wodurch das Bild vor meinen Augen zu einer einzigen Farbpalette verfloss und der Straßenlärm wirkte auf mich noch lauter, als er es ohnehin schon war.

Aber manche Dinge erkennt man selbst dann, wenn man sich inmitten seiner eigenen Gedanken verlaufen hat. Manchmal war es der süße Duft eines Parfums, manchmal hingegen die winzigen Funken einer Zigarette, die auf den Asphalt rieselten.

Und manchmal ist es beides.

Mein Schritt verlangsamte sich. Ich war zwar bestimmt noch fünfzig Meter und einen Zebrastreifen von ihm entfernt, aber seine Silhouette war das Einzige, das aus dem Meer an Farben hervorstach.

Er trug noch immer dieselbe Jeansjacke, die er damals getragen hatte, nur dass die Fäden an den Ärmeln sich mittlerweile vom Material zu lösen begannen. Die Schnürsenkel seiner Converse hatte er in einer unordentlichen Schleife um seine Knöchel gebunden und er ließ seine Zigarette langsam gen Boden senken. Er blies eine Schwade in die Luft.

Eine Weile stand ich einfach nur da und schaute ihn an. Der Regen schüttete derweil in Strömen zu Boden und durchtränkte mich von den Haarspitzen bis zu den Schuhsohlen, aber das bemerkte ich schon gar nicht mehr. Alles, was ich in diesem Moment hörte, war mein Herz, das viel zu schnell schlug. Meine zu lauten Gedanken. Seine dummen Sprüche, die ich irgendwie nie aus meinem Kopf bekommen konnte. Und das einzige, das ich sah, war er. Er, wie er sich langsam zu mir umdrehte und die Zigarette fallen ließ.

Louis.

aesthete | 𝐥𝐚𝐫𝐫𝐲 𝐬𝐭𝐲𝐥𝐢𝐧𝐬𝐨𝐧Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt