Ich stopfte die Tabletten meinen BH und beschloss sie bei der nächstbesten Gelegenheit im Klo runter zu spülen. In dem Moment war es mir egal was das für Folgen haben konnte und wie das mein Leben beeinträchtigen würde, ich wollte mich einfach nur irgendwie an meiner Mum rächen, die mir immerhin bis jetzt genau 16 Jahre meines Lebens geraubt hatte.
Ich trank das Glas mit Wasser leer und zog mir die Decke über den Kopf.
Der Geruch des Hoodie's stieg mir in die Nase und entfachte eine Wärme in meinem Herz. Es war wie als würde eine eisige Schicht die sich um mein Herz festgeklammert hatte, aufbrechen und ein warmes Gefühl darin endlich freigelassen werden. Er erinnerte mich an etwas von früher, etwas schönes, etwas was mich glücklich gemacht hatte, doch ich konnte nicht sagen was.Übermorgen war der Todestag meines Bruders. Der Tag an dem ich älter werden würde als er es jemals geworden war. Das fühlte sich komisch an. So als sollte das nicht so sein. Immerhin hatte er Mum glücklich gemacht. Er war doch derjenige bei dem sie immer gelacht hat. Zumindest war das doch so, oder? War es echt so gewesen? Hatte ich überhaupt einen Bruder? Oder bildete ich mir das nur ein, damit ich etwas hatte worauf ich die Reaktionen meiner Mutter schieben konnte.
Hat es diesen Bruder wirklich jemals gegeben? Und wenn ja warum gab es keine Fotos mehr von ihm? Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste garnichts mehr und das frustrierte mich mehr als alles andere. Was war mein Leben überhaupt? Wer war ich eigentlich und warum war genau das hier mein Leben?
Die Gedanken schwirrten nur so in meinem Kopf herum und alles formte sich zu einem großen Gedankenstrom, der mich wie ein Strudel hinabsaugte.
Es war alles so verwirrend und ich traute niemanden mehr. Nicht meiner Mum, nicht Olivia und schon garnicht mir selber. Wenn man sein ganzes Leben so vollgepumpt wurde mit Medikamenten sodass man sich abends schon nicht mehr an den Morgen erinnerte, schien auf einmal alles nicht mehr echt zu sein. Es fühlte sich an als befand ich mich wie in einer Seifenblase und zog alles wie ein Film an mir vorbei. Immer mehr Gedanken, Wenn's und Aber's kamen hinzu, bis mein Körper aufgab und ich erschöpft einschlief.Dies war das erste mal seit langem, das ich länger als zehn Minuten schlief. Nach einer halben Stunde wachte ich mal wieder wie so üblich schweißgebadet auf, doch dieses mal war es anders. Ich fühlt mich irgendwie anders. Ich wusste das ich irgendwas geträumt hatte. Zwar ergab es keinen Sinn für mich, doch es erweckte etwas in mir, dass mich alles nur noch mehr hinterfragen ließ und mich nochmal mehr davon überzeugte das ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, die Tabletten nicht zu mir zu nehmen. Wenig später betrat Olivia mein Zimmer mit einem Rollstuhl. Fast hätte ich vergessen das meine Mum darauf bestanden hatte mit mir zu einem Psychiater oder zumindest einer Selbsthilfegruppe zu gehen.
"Ich hab es versucht."
Meinte Olivia seufzend und schob das schwarze, metallisch glänzende Fahrgestell neben mein Bett. Ich winkte ab und ließ mich in den Rollstuhl fallen. Es hatte sowieso keinen Zweck mit meiner Mutter Diskussionen zu führen denn in einer Sache waren wir uns ziemlich ähnlich: darin das wir manchmal ziemliche Sturköpfe sein konnten.
"Willst du noch etwas mitnehmen?"
fragte Olivia mich während sie die blaue Fleecedecke über meine Knie legte und an den Seiten in den Rollstuhl feststeckte.
Ich ließ meinen Blick durchs Zimmer gleiten und blieb an der Grünen Bomberjacke hängen, ebenfalls von meinem verstorbenen Bruder. Dies waren die einzigen Teile die ich noch von ihm besaß, da ich sie durch Zufall im Keller gefunden hatte und meine Mum sich den Rest gekrallt hatte und ihn auch nicht mehr rausrücken wollte.
Olivia folgte meinem Blick und holte mir die Jacke. Nachdem ich sie angezogen hatte schob sie mich raus auf den Flur und drückte den Fahrstuhlknopf.
Ja wir besaßen einen Fahrstuhl. Aber auch nur wegen des Gutachtens, nachdem meine Mum sich geweigert hatte das Haus zu verlassen um in ein Barrierefreies Haus zu ziehen. Weil sie psychisch so labil war bekamen wir mithilfe eines spezialen Gutachtens dann schließlich einen Fahrstuhl gebaut. Auf dem Weg nach unten kreuzte mein Blick mein eigenes Spiegelbild und fiel mir der kahle Fleck auf meinem Hinterkopf wieder ein. "Hast du ein Haargummi dabei?" fragte ich Olivia. Sie nickte und ich bat sie mir die haare zu einem hohen Pferdeschwanz zu binden. Das tat sie netterweise auch und so verließen wir fünf Minuten später das Haus.Meine Mum saß schon im Auto und als sie Anstalten machte um wieder auszusteigen, um Olivia zu helfen den Rollstuhl ins Auto zu bugsieren, so schaffte diese es zum Glück Mum so weit zu bringen dass sie sitzen blieb und nur Kommentare vom Beifahrersitz lieferte.
Ich bewunderte Olivia sehr, wie sie das alles mit so einer Gelassenheit und Freundlichkeit meisterte und es immer schaffte meine Mum wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich würde sie schon längst zu professioneller Hilfe geschickt haben, anstatt mich unnötig bis in die Innenstadt zu fahren, nur um eine Stunde später wieder zurück zu fahren.
Schweigend saß ich am Fenster und starrte nach draußen auf die Landschaft die an uns vorbei raste, während meine Mutter wirres Zeug auf mich einredete.
Nach circa 20 Minuten erreichten wir die ersten Häuser des Zentrums und weitere fünf Minuten später waren wir da.
Olivia parkte vor einem großen Gebäude mit einer riesigen Fensterfront. Es sah ganz anders aus als dass ich mir vorgestellte hatte. Eher wie ein Bürogebäude als wie die typischen Gebäude für Selbsthilfegruppen die man immer in Filmen sieht.
Zielsicher steuerte meine Mum auf die großen, gläsernen Eingangstüren zu und betrat die Lobby.
Olivia und ich folgten ihr.
Ich fühlte mich so fehl am Platz. So hilflos, an dieses dumme Ding gefesselt und wegen einem Grund hier, den es nicht mal gab.
Na, außer das meiner Mutter nicht mehr ganz hell in der Birne war und im Gegensatz zu mir ganz sicher dringend professionelle Hilfe benötigte.Die Frau an der Rezeption gab uns eine Visitenkarte mit und verwies uns dann zu einem der Fahrstühle an der rechten Seite.
" 7. Stock und dann links im Flur die dritte Tür."
Sie lächelte mich mitleidig an und wendete sich dann wieder an das ununterbrochen, klingelnde Telefon.
Meine Mum nahm die Karte, stopfte sie in ihr Portemonnaie und lief zügig auf den Fahrstuhl zu. Olivia und ich folgten ihr.

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Midsummer Season
Художественная прозаWas wenn man Wahrheit nicht mehr von Illusion unterscheiden kann? » Alle gaben immer vor das ihr Leben so perfekt war und in Wirklichkeit war das einfach nur eine dumme Illusion, der wir uns gerne hingaben, weil wir die Wahrheit nicht wahrhaben woll...