Krisensitzung

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Im Nachhinein weiß ich nicht genau, wie ich nach Hause kam. Irgendwann stehe ich vor meiner Haustür und suche den Schlüssel in der verflixten Jacke. Ich reiße sie mir vom Oberkörper und werfe sie achtlos in eine Ecke. Die Jacke kann zwar nichts dafür, aber ich bin so verdammt wütend. Auf mich, auf Eden, aufs ganze Universum.

Womit habe ich diese Situation verdient? Warum kann mein Liebesleben nicht ein Mal einfach ablaufen? Ein Mal einen Mann treffen, den ich toll finde und der mich toll findet, und alles ist wunderbar. Aber nein, jetzt muss ich überlegen, wie es weiter gehen soll. Das einfachste wäre, wenn ich Eden vergessen würde und nach vorne schaue. Aber wenn ich die Augen schließe, sehe ich Eden. Wie sie mich in der Pizzeria anstrahlt, als hätte ich ihr einen Hundewelpen geschenkt. Wie sie mich anschaut, als wäre ich die wichtigste Person auf dem Planeten. Und ich sehe sie, wie wir auf der Bank sitzen und sie mich diesmal traurig ansieht. Als hätte ich ihr den Hundewelpen wieder abgenommen. Es geht hier aber nicht um Eden.

Natürlich geht es hier nur um Eden, aber in erster Linie um mich, wie ich fühle und denke. Und gerade denke ich einfach nur an ihre Hand in meiner und wie es wäre, wenn sie ein Mann wäre. Wäre sie das, würde ich jetzt auf dieser Bank sitzen und sie küssen. Ich wäre mutig und würde ihn mit einem zaghaften Kuss überraschen. Er wäre erst verblüfft, würde mich dann aber zurück küssen. Wir würden den ganzen Tag dort sitzen. Küssend, lachend, Händchen haltend. Und ich wäre glücklich. Wir wären glücklich.

Aber sie ist eine Frau und ich bin eine Frau. Was nicht das Problem wäre, wenn ich nicht die zweite Frau in diesem Szenario wäre. Doch bin ich, Persephone, nur für Liebe mit Männern offen. Dachte ich. Jetzt schmeiße ich alles über den Haufen und will niemanden verletzen. Nicht Eden und vor allem will ich nicht verletzt werden. Mein Herz soll ganz bleiben. Aber Herzen werden nun mal gebrochen.

Ich weine ununterbrochen. In erster Linie beweine ich mich selbst und dann Eden, weil ich mich verraten fühle. Aber es sind keine der Tränen, die vergossen werden, nach denen man sich besser fühlt. Es ist ein ertrinkenes Gefühl, an der Wasseroberfläche.

Eden hätte es mir sagen müssen. Aber gleichzeitig kann ich sie auch noch verstehen. Angst bringt Menschen zu vielen Dingen, die sie nicht machen wollen und es trotzdem tun. Aber sie hätte es nicht soweit gehen lassen dürfen.

Doch was wäre dann passiert? Hätte ich mich dann je in sie verliebt? Habe ich mich in sie verliebt, oder nur in die männliche Version? Es gibt doch theoretisch nur eine. Ich wünschte, ich könnte sie hassen, aber ich kann es nicht. Es geht nicht, denn ich habe ihr mein Herz schon geschenkt. Dafür muss ich zu sehr an unsere gemeinsamen Stunden vor den Bildschirm denken. Die ganzen Nachrichten. Wie wir gelacht haben und die ungeweinten Tränen. Wie sie für mich da war, als ich krank war und sie nicht zu gelassen hat, dass ich mich alleine fühle. Wie sie in der letzten Zeit immer da war und mich so mag, wie ich bin. Und ich mag sie, so wie sie ist. Aber kann ich romantische Gefühle für sie haben, obwohl ich auf Männer stehe? Stehe ich überhaupt wirklich nur auf Männer?

Darüber habe ich mir nie große Gedanken gemacht. Mit 15, wenn jeder an sich und allem zweifelt und versucht herauszufinden, wer man ist, auch ob man Frauen oder Männer interssant findet. Oder beides oder auch gar nicht. Damals habe ich zwar kurz in alle Richtungen nachgedacht, aber kam zum Schluss, dass ich nur Männer toll finde. Aber warum? Weil in der Gesellschaft immer noch Mann mit Frau eher angesehen werden als andere Konstellationen? Weil in meinem Umfeld alle offiziell hetero sind? Was hielt mich auf? Sonst bin ich auch offen für alles. In dieser Hinsicht habe ich aber nie einen Schlenker gemacht. Es war mir immer bewusst wie ich fühle, bis heute. Verdammt.

Was denken die Leute, wenn ich auf einmal mit einer festen Freundin auftauche? Das sollte mir egal sein, ist es aber nicht. Wie würden meine Eltern reagieren, wenn ich nie eine Silbe dazu geäußert habe und auf einmal mit ihr an Weihnachten auftauchen würde?

Mein Handy klingelt und es ist der Klingelton meiner Mutter. Natürlich. Wie hätte es auch anders sein können? So gut gelaunt wie ich nur schauspielern kann, gehe ich ran und begrüße sie.

"Hallo Spatz. Ich habe den ganzen Tag schon ein komisches Gefühl im Bauch und wollte mal fragen, ob bei dir alles in Ordnung ist."

Mir wird mal wieder bewusst, von wem ich das habe. Leider sind wir sehr treffsicher mit unserem Bauchgefühl und das weiß sie auch.

"Nein. Bei mir ist nicht alles in Ordnung, aber eigentlich bin ich nicht bereit, darüber zu reden."

"Und ich denke, dass du mich brauchst, aber dich nicht traust, mit der Sprache rauszurücken. Du weißt, dass es dir danach besser gehen wird. Also schieß los. Sonst setze ich mich ins Auto und komm vorbei."

Mein Augenrollen gestatte ich mir, weil sie es nicht sehen kann. Aber sie hat ja recht. Bis jetzt hat sie mich immer durch eine Krise gebracht.

"Es gibt da jemanden, den ich mag. Sehr. Nur ist da was mit ihm, womit ich nicht gerechnet habe, was wir aber vorher hätten klären müssen. Jetzt weiß ich nicht, ob das meine Gefühle beeinflusst. Eigentlich weiß ich gerade nichts genau und bin die ganze Zeit am Weinen."

Daraufhin fange ich wie auf Kommando an zu schluchzen und lasse es raus. Diesmal richtig. Diesmal fühle ich den ganzen Schmerz, der in mir steckt und höre auf zu ertrinken.

"Och, mein Baby. Erzähl mir alles."

Und das tue ich. Von dem Zettel in der Jacke. Meine Nervosität beim Verfassen der ersten Nachricht. Die Freude, die durch mich hindurch ging, als ich ihre Antworten gelesen habe. Einfach alles, bis einschließlich heute. Das er eine sie ist.

Stille. Sekundenlange Stille, die sich wie Stunden anfühlen.

"Mama? Bist du noch dran?"

"Aber natürlich bin ich das. Ich denke gerade darüber nach, an welchem Punkt dein Vater und ich bei deiner Erziehung einen kleinen Fehler gemacht haben. Haben wir dir nicht beigebracht, dass du deinem Herzen folgen sollst? Deinem Bauchgefühl? Dass du, wenn es für dich in Ordnung ist, nicht über die Gedanken der anderen nachdenken sollst? Du magst diese Eden offensichtlich und du darfst ein wenig wütend auf sie sein, dass sie zwar ihr Geschlecht nicht richtig verschwiegen hat, aber es auch nicht klargestellt hat. Weshalb machst du dir denn so Gedanken? Ist es, weil sie keinen Penis hat? Da gibt es Dildos, falls dir das fehlen wird. Du hast dich in sie verliebt, ohne zu wissen, wie sie aussieht. Du hast dich in die Person verliebt, die sie ist. Das spricht für dich, dass du kein oberflächer Mensch bist. Sie ist immer noch Eden und du magst sie sehr. Also warum gibst du ihr keine Chance? Gibst euch eine Chance? Es kann aus vielen Gründen irgendwann zerbrechen, aber es sollte nicht scheitern, bevor es erst richtig angefangen hat. Vor allem nicht wegen eines Geschlechts."

Fast wäre ich sprachlos, aber dafür habe ich noch zu viele Gedanken in meinem Kopf.

"Aber ich habe Angst", flüstere ich fast lautlos.

"Natürlich hast du die! Niemand will ein gebrochenes Herz. Aber alleine sein will auch niemand. Und vor allem will niemand Jahre später zurück denken und es bereuen, sich nicht getraut zu haben. Das habe ich dir nie erzählt, aber vor Papa gab es einen Menschen. Den fand ich richtig toll, aber ich war damals viel zu stur und ich bereue es, weil ich nie herausgefunden habe, was aus uns geworden wäre, wenn ich nicht so blöd gewesen wäre. Zwar bin ich jetzt sehr glücklich, dennoch plagt es mich hin und wieder immer noch. Was wäre passiert, wenn ich uns eine Chance gegeben hätte? Koch dir einen Vanillepudding und melde dich bei ihr. Sie wartet bestimmt schon und wenn du dazu bereit bist, gib euch eine Chance. Papa und ich halten dir den Rücken frei. Für immer und ewig."

Und so lässt sie mich alleine, aber das bin ich nicht wirklich.

Beim Pudding essen, denke ich nochmal über alles nach. Ich bin nicht mehr so unsicher wie vor dem Gespräch. Doch weiß ich es nicht.

Ich weiß es einfach nicht.

3 Sekunden mutig seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt