5.

10 3 2
                                    

Wenn ich gedacht hatte, die Weihnachtszeit würde sich ziehen wie Kaugummi, hatte ich falsch gedacht. Die Tage waren nicht nur kürzer und kälter, sie gingen auch viel zu schnell vorüber. Nicht, weil mich die Feiertagslaune so sehr gepackt hatte, aber das Jahr hatte 365 Tage und der letzte Monat bestand gefühlt aus lediglich einer Woche. Ehe ich's mich versah, waren also die nächsten zwei Tage vergangen und die Semesterferien standen kurz bevor. Ähnlich wie in der Highschool empfand ich die Zeit vor den Ferien immer als stressiger und durch meinen Job im Café hatte ich sowieso nicht allzu viel Freizeit, trotzdem fiel mir das Rennen der Zeit auf.

Auch am Mittwoch, als ich während meiner Schicht wie üblich Tische wischte und Kunden die neuen Apfel-Birnen-Cupcakes servierte, war ich erneut überrascht, wie schnell die Zeit verging.
Cupcakes waren Franks Ding und er probierte regelmäßig neue Rezepte aus. Dass er eigentlich kellnerte und nicht in der Küche arbeitete, störte hier niemanden. Immer wieder bekam er Komplimente für die Küchlein, hing aber aus unerfindlichen Gründen so sehr an seinem Job, dass er es um keinen Preis als Koch oder Konditor probieren würde. Allerdings war ich mir auch zunehmend nicht mehr so sicher, ob es an seinem Job oder nicht eher dem Chef hier lag, aber psst!

Mit den Gedanken permanent abschweifend, absolvierte ich meine Schicht wie in Watte gepackt und hätte Alec mich nicht auf die Uhr aufmerksam gemacht, hätte ich wohl bis Ladenschluss gearbeitet.

"Danke, bin hier gleich fertig.", antwortete ich Al über das Geschrei eines Babys hinweg. Entschuldigend lächelte die wirklich sehr junge Mutter mich an und ihre Verzweiflung ließ mich ihr mit der flauschigen Decke im Kinderwagen helfen. Gut verpackt bugsierte sie den kleinen Jungen durch die Tür und schlang den Schal um sich. Erst als das Glöckchen über der Tür erneut bimmelte und die Tür sich schloss, erwachte ich aus meiner verzückten "Aww-wie-niedlich"-Starre. Das Baby war wirklich zuckersüß gewesen.

Schlussendlich dick eingepackt und von Al verabschiedet - er hätte mich beinahe eigenhändig aus dem Café geschoben, bahnte ich mir ein letztes Mal heute einen Weg zwischen den Stühlen hindurch und war gerade durch die Tür getreten, als mein Kopf gegen etwas prallte, dass sich wie eine Winterjacke anfühlte. Weil es eine war. Um ein Haar hätte ich das schwarze Kleidungsstück nicht wiedererkannt und wäre leise schimpfend weitergelaufen, doch stattdessen hob ich den Kopf und starrte direkt in Lucas graue Augen. Natürlich, wer sonst? Was auch immer ich dem Schicksal getan hatte, hiermit bat ich verzweifelt um Gnade!

Es war mir ein Rätsel, weshalb er nicht einfach um mich herum trat und weiter ging, als sei das hier nie passiert, denn im Grunde war ja nichts passiert, aber auch ich bewegte mich keinen Millimeter.
Viel zu nah stand ich nun direkt vor ihm, neben der Tür zum Café, sein altbekannter Duft weckte Erinnerungen, die zu vertreiben mich eine Menge Tränen und Kraft gekostet hatten. Und Zeit, vor allem die.

Dennoch starrte ich wie gefesselt in diese grauen Augen, die zu mir herabsahen, doch scheinbar hatte ich sie zu deuten verlernt, denn sonst hätte ich darin sicher nicht Sorge und Schmerz erkannt. Er hätte sich sicher nicht langsam, wie in Zeitlupe, zu mir hinunter gebeugt und seine Lippen so sanft und unschuldig auf meine gedrückt wie es zuletzt vor sieben oder acht Jahren passiert war.
Aber er tat es.
Und ich ließ es geschehen. Einfach so.

Wir waren einfach in einer riesigen Stadt voller Menschen zufällig in einander gelaufen und zufällig war er gerade auch hier, am Mandy's, und genauso zufällig beugte Luca sich jetzt auch erneut zu mir hinunter um mich zu küssen. Natürlich, das war ja auch alles so logisch, wem würde das nicht ständig passieren?
Und da rastete irgendetwas in meinem Hirn ein und ich trat ruckartig einen Schritt zurück. Dass ich mich damit gegen die Hauswand drückte, nahm ich nur am Rand wahr, denn mein Fokus lag ganz und gar auf dem Menschen direkt vor mir, der nun einen ganzen Schritt entfernt und dennoch so nah vor mir stand. Auf einmal fühlte sich mein Hals nicht mehr so trocken und rau an, wie noch vor wenigen Sekunden und ich sammelte all meine verbliebene Willenskraft, um diese eine Frage zu stellen.
"Wieso?"
Im selben Moment verlor ich die Kontrolle und meine Handfläche landete unsanft auf seiner Wange. Sicher, mein Schlag mochte nicht kräftig gewesen sein, doch Luca verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Ich sah ihm an, dass er zu einer Antwort ansetzte, doch das war mir plötzlich gänzlich egal. Das hier, was auch immer es war, war falsch und ich musste es jetzt sofort beenden.

Also atmete ich schnaubend aus, trat demonstrativ um ihn herum und legte meinen Weg fort, als sei nichts passiert. Doch jetzt war etwas passiert und was auch immer es gewesen war, es war gefährlich. Und um jeden Preis musste ich das in Zukunft verhindern. Wenn Luca schlau war - und so hatte ich ihn in Erinnerung, würde er sich in Zukunft wieder fernhalten. Von mir. Vom Mandy's. Von allem, was irgendwie zu mir gehörte.

Plötzlich erschöpft blieb ich stehen und lehnte mich erneut gegen die Backsteinfassade eines älteren Hauses. Den Kopf gen Himmel gestreckt fielen mir vereinzelt Schneeflöckchen ins Gesicht und ein kalter Wind wehte mir ins Gesicht. Ich nutzte den Moment zum Durchatmen. Das hier war absurd.
Alles.
Dass Luca wieder aufgetaucht war.
Dass er trotz des Moments beim letzten Mal im Mandy's dort aufgetaucht war.
Dass ich ausgerechnet in ihn stolperte und vor allem dieser Kuss. Dieser beschissene Kuss, der beinahe einen zweiten ausgelöst hätte, aber trotz meines Eingreifens einen Schneesturm in mir ausgelöst hatte, den auch diese Stadt nie gesehen haben konnte. Das war alles absurd. Unwirklich. Ein Traum - ein Albtraum, wohl gemerkt.

Seufzend setzte ich meinen Weg fort. Wieso zerbrach ich mir eigentlich schon wieder den Kopf über diesen Mann? Die Vergangenheit hatte mir gelehrt, dass das vollkommene Zeitverschwendung war und außerdem hatte er eine süße Freundin, also gab es keinen Grund für ihn, mich zu suchen. Oder zu küssen.

Nur musste ich meine Gefühle davon nochmal richtig überzeugen.

----------------------------------------------------
A.N.
Oh oh, da hat sich Luca ja mal echt einen Fehler erlaubt, oder? Die arme June ist ja völlig durcheinander! Tja, Zufälle gibt's eben. Warum wäre Luca wohl sonst gerade am Mandy's gewesen?

Andere Frage: Hat dir dieses Kapitel gefallen? Wie immer würde ich mich über ein wenig Kritik freuen!
Lia 🌺

Once again in DecemberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt