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Seit zweieinhalb Stunden lief dieser Mist hier schon rauf und runter. Der Radiosender, den Alec in den letzten Tagen 24/7 durch das kleine Café schallen ließ, spielte derzeit ausschließlich Weihnachtslieder. Vermutlich erfüllte es seinen Zweck und versetzte die meisten Kunden in Weihnachtsstimmung, aber gemeinsam mit der weihnachtlichen Deko im gesamten Raum ging mir der ganze Weihnachtskitsch langsam gewaltig auf die Nerven. Last Christmas hier, Jingle Bells da und zwischendrin Alec's gestresste Stimme, die mir alle paar Sekunden neue Aufträge erteilte. "Ein Zimt-Schokoladen-Cupcake für Tisch 7 und etwas schneller als bei Tisch 9!", rief er mir jetzt zu.

Seit Cat vor beinahe 5 Wochen gekündigt hatte und Al, Frank und mich allein in diesem Café gelassen hatte, übernahm Al hin und wieder Cats vorherige Schichten. Mein Boss war trotz oder gerade wegen der Weihnachtszeit zusätzlich dauergestresst und natürlich bekam ich alles ab.
Alec Whittaker, dieser Fiesling, wusste, dass ich ihm für nichts böse sein würde, ich hatte schließlich Glück mit meinem Chef. Er war kaum 4 Jahre älter als ich und wir hatten im Laufe der Zeit eine wunderbare Freundschaft aufgebaut. Alec war einer meiner wenigen Freunde in Boston. Einer der wenigen, die ich überhaupt hatte.
Eines unterschied uns jedoch gewaltig:
Sein Sinn für Festivitäten jeder Art. Die einzige Ausnahme bildete sein Geburtstag, er weigerte sich seit ich ihn kannte, diesen richtig zu feiern, doch jedes andere Fest - zu meinem Missfallen besonders Weihnachten - bereitete ihm Freude wie niemandem sonst. Bei mir sah das anders aus. Ich ignorierte meinen Geburtstag zwar nicht vorsätzlich, doch mit Weihnachten konnte ich nur wenig anfangen und auch andere Familienfesttage waren nicht gerade mein Ding. Vielleicht lag das daran, dass meine Familie in Houston wohnte und mit meiner Wohnung in Boston ein halbes Land zwischen uns lag. Allerdings legte ich auch nicht unbedingt großen Wert darauf, über die Feiertage nach Hause zu fahren. Das Verhältnis zu Mom und Dad war nie schlecht gewesen, aber auch nicht so eng, dass ich Lust auf einen Weihnachtsbesuch hatte.

"June!", riss mich eine laute Stimme jäh aus meinen Gedanken. Alec stand vor mir und wedelte mit der freien Hand so vor meinem Gesicht herum, dass das Tablett in der anderen gefährlich schwankte. Bevor ich es verhindern konnte schüttelte ich meine Gedanken wortwörtlich ab und stieß gegen das wackelnde Tablett - das natürlich zu Boden fiel. Wie sollte es anders sein, bekam ich den gesamten Inhalt der heißen Schokoladen ab und fluchte leise. Zumindest Alec blieb verschont von meiner Tollpatschigkeit, obwohl er das Tablett getragen hatte. Er grummelte etwas vor sich hin und als ich mich bücken und die Scherben der drei zu Bruch gegangenen Tassen grob aufsammeln wollte, schob mich mein Boss sanft aber bestimmt weg. "Nix da. Geh dich umziehen und dann machst du weiter. Lass mich das hier übernehmen." Mit dem Kopf deutete er zum Raum hinter der Theke. Dort waren kleine Schließfächer und Toiletten für Mitarbeiter untergebracht. Ein paar Minuten später stand ich exakt hier und betrachtete missgelaunt die rötlichen Stellen, die das heiße Getränk hinterlassen hatte. Keine Verbrennungen, aber es tat durchaus ein wenig weh. Als ich jedoch nach vorn zurückkehrte, bemühte ich mich um ein strahlendes Lächeln, wie ich es immer zeigte, erledigte weiter Bestellungen und räumte Tische ab, während Al die Ausrede der Scherben nutzte, um gleich mal ordentlich hinter der Theke zu fegen und zu wischen. Vielleicht war es seine Art, sich ein paar Minuten "Pause" zu gönnen und die hatte er sich tatsächlich verdient, also sagte ich nichts. Bis die Klingel über der Tür leise bimmelte und einen neuen Gast ankündigte.
Ich blickte von dem Tisch auf, den ich eben abgewischt hatte und sah die beiden Personen auf diesen zugehen. Und somit auf mich. Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, da machte es 'Klick' in meinem Hirn und mein Fluchtinstinkt setzte ein. Eine der beiden Personen, die nun an Tisch 5 Platz nahmen, kannte ich. Doch ich konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen und abhauen. Überhaupt war ich längst darüber hinweg, also wieso Fluchtinstinkten folgen? Wer wusste schließlich, ob er sich überhaupt noch an mich erinnerte?

"Hallo, was kann ich für euch tun?', fragte ich höflich lächelnd, wobei es mir zunehmend schwerer fiel. Das Brennen einer ungerechtfertigten Wut loderte in mir auf.
Das Mädchen lächelte mich ebenfalls offen an. Ihre kurzen, braunen Haare umrahmten ihr schmales Gesicht, sie war wirklich hübsch. Doch das war es nicht, was mir einen derartigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Es war der bekannte am Ausdruck in seinen Augen. Als würde er sich sehr wohl erinnern. Verwundert, mich hier zu sehen. Ein unerwarteter Schauer lief meinen Rücken hinunter. Das hier war ein schlechter Scherz.

"Also?", fragte ich etwas ernster als beabsichtigt. Luca sah auf meinen Notizblock, der im Grunde überflüssig war. "Kaffee", meinte er und seine Stimme klang anders als ich sie in Erinnerung hatte. Müde. Erwachsener.
Die zierliche junge Frau neben ihm sprach leise, als hätte sie Angst, irgendetwas könnte demnächst explodieren. Vermutlich ich. Wo waren bloß meine meine schauspielerischen Fähigkeiten, die mich an schlechten Tagen verlässlich durch meinen Job brachten? Innerlich wies ich mich zurecht. Ich konnte mich jetzt nicht verlieren, nur weil Luca plötzlich aufkreuzte. Nach 7 Jahren.
"Haben Sie heiße Schokolade?", fragte das Mädchen. Also hatte ich richtig geraten und sie war noch nie hier gewesen. "Die beste." bestätigte ich mit einem erzwungenen Lächeln. Dann setzte ich meine Runde fort und gab die Bestellungen bei Frank ab.

Ich wollte gerade Tisch 3 abwischen, als mich Al zurückzog und entschuldigend lächelte. "Deine Ordentlichkeit in allen Ehren, aber die Bestellungen für Tisch 5 und 8 sind fertig, June. Bitte..." Er sah mich entschuldigend an und drückte mir das Tablett in die Hand. "Ich muss kurz... nach hinten." Damit verschwand er und ich durfte schon wieder zu Tisch 5. Das konnte doch nicht wahr sein!

"Einmal Schokolade, einmal Kaffee. Mit Milch, ohne Zucker, mh?", meinte ich schlicht, konnte mir nach einem Nicken jedoch einen Kommentar nicht verkneifen. "Manche Dinge ändern sich wohl nie..." Den Satz ließ ich einfach offen im Raum stehen. Beinahe war ich stolz auf mich, dass ich den typischen gepressten Klang meiner Stimme, der immer wenn ich wütend oder sauer war zum Vorschein kam, verbergen konnte. Vielleicht hatte ich mich bei dem Mädchen recht unbeliebt gemacht - freundlich war ich zu ihrem Freund nicht wirklich gewesen - aber wer weiß, vielleicht klärte er sie ja auf. Und dann machte sie sich ihr eigenes Bild.

Nach meiner Schicht verabschiedete ich mich noch schnell von Al und Frank, der den gesamten Nachmittag aus irgendeinem Grund wie ein Honigkuchenpferd gegrinst hatte, und verzog mich dann in die Kälte Bostons. Automatisch schlang ich die Arme um meinen Körper, weil mir trotz meines Mantels immer kalt war, sobald ich das Haus verließ.

Seufzend legte ich den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. An die Hauswand gelehnt ließ ich den Tag Revue passieren, während es um mich herum langsam dunkel wurde. Das geschäftige Treiben nahm dennoch nicht ab.

Gleich als erstes schweiften meine Gedanken zu Luca und seiner Freundin. Wieso er ausgerechnet hier aufgekreuzte, seit wann die beiden wohl zusammen waren, was sie an ihm so toll fand und wieso zur Hölle ich so stark darauf reagierte? Ich war seit Jahren darüber hinweg und dennoch war mein Verhalten heute echt beschissen gewesen. Ich reagierte selten so über und in Zusammenhang mit diesem Idioten gefiel mir das sicher nicht. Wie gut, dass Boston groß war. So schnell würde er vermutlich nicht mehr freiwillig aufkreuzen.

Once again in DecemberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt