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Als ich die Tür zu meiner Wohnung öffnete stieg mir sofort der Geruch von frischem Heu in die Nase und ich musste unwillkürlich lächeln. Seit ich meinen Hamster Coffee, einen Goldhamster mit großen schwarzen Augen, hatte, roch es überall nach seinem Rauffutter.
Ich betrat den kleinen Eingangsbereich, legte meinen Mantel ab und zog meine Stiefel aus.
Keine fünf Minuten später hatte ich es mir mit einem Tee auf dem Sofa gemütlich gemacht. Nachher würde Coffee nochmal gefüttert werden, doch jetzt war erstmal etwas Zeit für die kitschigsten Weihnachtsfilme, die Netflix zu bieten hatte. Ich glaubte nicht mehr an meine eigene romantische Lovestory, das bedeutete aber nicht, dass ich der Romantik ein für alle Mal abgeschworen hätte. Hoffnungslos verfiel ich regelmäßig Romanfiguren und Filmcharakteren, verschlang Liebesromane wie Schokokekse und freute mich für Paare, die sich im Mandy's in der kalten Jahreszeit gemeinsam mit einem Kaffee aufwärmten. Also für die Meisten...

Während The Holiday Calendar auf dem Fernseher lief, bekam ich langsam Hunger. Nach kurzem Überlegen stellte ich fest, dass ich weder Lust auf Kochen noch etwas Vernünftiges zum Essen da hatte. Also bestellte ich mir kurzer Hand etwas beim Chinesen.
Satt und wieder aufgewärmt fütterte ich Coffee und stellte anschließend den Fernseher ab. Der Film war ohnehin zu Ende und ich wollte noch duschen. Einkaufen könnte ich genauso gut auf morgen verlegen, auch wenn es an Samstagen tendenziell voller im Supermarkt war.

Tatsächlich hatte ich am nächsten Morgen direkt meinen Einkauf erledigt. Für gewöhnlich war ich kein Frühaufsteher, war heute aber aus unerklärlichen Gründen schon um halb acht wach gewesen. Nach Frühstück, Morgenroutine und einer imaginären Schweigeminute für meinen verpassten Schlaf war es immernoch Vormittag gewesen, sodass der Supermarkt zwei Straßenecken weiter vergleichsweise angenehm leer gewesen war. Ich hatte nichts gegen Menschen, aber Menschenmassen, die gehetzt durch enge Gänge rannten, konnten mir durchaus gestohlen bleiben.

Nachdem ich meinen Einkauf ausgepackt und mich erneut dick eingepackt hatte, erledigte ich den nächsten Punkt auf meiner To-do-Liste. Spazierengehen war eine der wenigen Formen von Sport, die ich freiwillig betrieb, wenn man das denn Sport nennen konnte. Seit ich mit meinen Aufgaben durch das Studium besser klarkam und mir somit einen strukturierten Freizeitplan hatte erarbeiten können, hatte ich mir fest vorgenommen, gerade im Winter mehr an die frische Luft zu gehen und die Kälte Bostons zu genießen. Gesagt, getan.

Die eigentlich schneebedeckten Wege im Park waren größtenteils geräumt und einige Kinder tobten wie wild in der weißen Glitzermasse, die sich über das Gras gelegt hatte. Mehr schlecht als recht flogen vereinzelt auch Schneebälle durch die Luft, wenn die Erwachsenen nicht hinsahen. Viele Familien nutzten das gute Wetter, um den Winter richtig zu genießen. Einige Meter vor mir lief eine junge Mutter mit Kinderwagen und einem etwa fünfjährigen Sohn und versuchte vergeblich, ihn für die Schönheit des eisigen Winters zu begeistern. Hinter mir nahm ich die Schritte eines älteren Paares wahr; man konnte nicht behaupten, der Park sei leer.

Mein Ziel war unterbewusst der See geworden, der zu jeder Jahreszeit viele Menschen anzog und im Winter besonders magisch wirkte. Mit meinen Handschuhen wischte ich etwas Schnee von einer Bank und war froh, dass sie trocken blieben. Ich hatte nicht nachgedacht, was genau ich im Park wollte. Im Sommer las ich hier hin und wieder, als Kind wäre ich wohl unzähmbar herumgerannt und hätte Schneeengel gemacht bis meine Winterjacke von innen nass gewesen wäre. Doch jetzt genügte es mir, für ein paar Minuten hier zu sitzen und die Menschen zu beobachten. Die Umgebung wirkte wie so oft entspannend und eine Weile saß ich dort herum.

Doch gerade als ich den Rücktritt wegen gefrorenen Hinterns antreten wollte, erblickte ich ein bekanntes Gesicht. Wobei "bekannt" wohl zu viel des Guten gewesen wäre, denn bisher war sie mir nur einmal begegnet. Gestern im Mandy's.

Die junge Frau bemerkte mich nicht, während sie sich langsam auf mich zubewegte. Sie wollte gerade ihren Weg fortsetzen, als sie mich erblickte und in ihrem Kopf begann es sichtbar zu rattern. Sie blieb stehen, bis sie nach wenigen Sekunden wohl entschied, auf mich zuzugehen. "Hi..." Einen Meter vor mir blieb sie stehen, als wollte sie die Möglichkeit zur Flucht bewahren. Ein schüchternes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und ich bedeutete ihr mit einer kleinen Kopfbewegung, dass sie sich meinetwegen neben mich setzen konnte. Einen Moment zögerte sie, setzte sich letztendlich jedoch.

Kurz entstand eine unangenehme Stille, dann richtete sie sich merklich auf und ergriff das Wort. "Du kennst Luca, oder?" Das überraschte mich. Ihre Stimme, die Worte, die Tatsache, dass sie so direkt fragte. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber das nicht. Verwirrt sah ich sie an. Hatte ich meine Haltung Luca gegenüber wirklich so schlecht verstecken können?
Ich räusperte mich.
"Kannte", gab ich knapp zu. Ich hatte keine Ahnung, wer sie überhaupt war, mal abgesehen vom Offensichtlichen. Dass die beiden ein ziemlich glückliches Paar waren, roch ich zehn Meilen gegen den Wind.
Doch Sophie - für mich sah sie aus wie eine Sophie - gab sich damit nicht zufrieden. Ich konnte spüren, dass ihr die ganze Situation unangenehm war, aber sie hatte schließlich angefangen.

"Wie heißt du?" Zugegeben, diese Frage überraschte mich weniger, dennoch zögerte ich kurz. Doch was war schon schlimm daran, ihr meinen Namen zu verraten. Das war doch nichts geheimes.

"June."
"Thea", entgegnete Sophie. Ebenfalls passend, fand ich. "Passt zu dir."
Das erntete einen verwirrten Blick ihrerseits. Klar, wir kannten uns ja nicht einmal.
Auf einmal hatte ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. "Du bist so... zierlich. Und wirkst total ruhig. Oder schüchtern. Ach, ist doch auch egal." Thea verstand. "Ich wollte nicht...", begann sie, doch ich spürte, dass ich zu direkt gewesen war. "Schon gut, du hast ja gar nichts getan." Ich zwang mich zu einem tröstenden Lächeln. Es sah vermutlich ziemlich künstlich aus.
Thea wirkte unglaublich nett, wenn man es objektiv betrachtete. Außerdem war sie hübsch, ihre braunen Augen strahlten neben der Verunsichertheit auch so viel Lebensfreude aus, wie ich sie selten auf den ersten Blick gesehen hatte. Ich konnte verstehen, weshalb Luca sie mochte. Und deshalb sagte ich genau das, was ich sagte.
"Du bist mit Luca zusammen, oder?" Die Frage war überflüssig, aber ich wollte sichergehen. Sie nickte. "Dann pass auf dein Herz auf, Thea. Alles Gute." Mit diesen Worten erhob ich mich und überließ eine völlig verblüffte Thea sich selbst und den Worten, die noch in der Luft hingen.
Ich hatte das seltsame Gefühl, dass Thea sich meine Worte merken würde.

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A.N.
Das waren also die ersten zwei Kapitel von Once again in December. Natürlich frage ich mich, was du jetzt denkst, also teile es mir gern mit.
Die nächsten Kapitel kommen morgen und ich hoffe, du verfolgst June's und Luca's Geschichte weiterhin mit.
Vielen Dank für's Lesen!
Lia 🌺

Once again in DecemberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt