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,,Du guckst in der Küche und im Wohnzimmer. Ich überprüfe in der Zeit das Schlafzimmer, das Badezimmer und den Balkon. Wir müssen ihn finden."

Ich erwarte, dass Antonin meiner Anweisung folgt und den Ernst der Lage versteht, oder wenigstens akzeptiert, dass ich die Situation richtig einschätzen kann. Doch ich werde tief enttäuscht, denn der Mann bleibt erst unschlüssig neben der Tür stehen und zieht sich anschließend ganz gelassen den Mantel aus, der sofort, wie selbstverständlich, an der Garderobe einen der freien Haken für sich beansprucht. Fassungslos auf Grund dieser unpassenden Handlungen, kann auch ich den Flur nicht verlassen.

,,Wie kannst du so ruhig bleiben? Wir müssen ihn suchen!"

,,Beruhige dich mal. Wahrscheinlich ist er gar nicht da. Er ist ein erwachsener Mann, die bleiben manchmal einfach weg. Du solltest dich nicht aufregen."

Als könnte er meinen Worten eher Glauben, wenn ich Antonin den Ring unter die Nase halte, von dem sich mein Bruder nicht mal high trennen würde und in dem Zustand ist er sonst zu allem fähig, was ich leider mehrfach miterleben, oder ausbaden musste. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm und das soll immer beide betreffen. Dem Fremden wird dieses Indiz vielleicht nicht helfen, doch der Ring ist Hoffung und Furcht zugleich, das muss er merken.

,,Ohne diesen Ring kann mein Bruder nicht leben. Er setzt ihn nie ab und lässt ihn nie aus den Augen. Erec muss hier sein."

Wütend schlage ich das kühle Silber auf die Kommode. Kurz habe ich Angst, das Heiligste meines Bruders beschädigt zu haben, durch mein impulsives Handeln, aber ein flüchtiger Blick genügt zur Beruhigung. Er ist noch immer gebogen und auch an den dunklen Steinen auf der Verdickung, die sich gewöhnlich an den Daumen meines Bruders schmiegt wie eine kuschelbedürftige Katze, sind keinerlei Kratzer zu entdecken. Beruhigt und doch besorgt zugleich, will ich nun endlich meinen Plan in die Tat umsetzen, doch der Mann bewegt sich weiterhin keinen Millimeter.

,,Was ist denn jetzt noch? Komm endlich, es kann jede verdammte Sekunde zählen."

,,Ich weiß doch gar nicht, wo euere Küche und das Wohnzimmer sind."

Beinahe wäre ich auf ihn losgegangen. In einer solchen Situation eine dermaßen dämliche Ausrede zu gebrauchen, zeugt wahrlich nicht von Mut und Tapferkeit. Von seiner Arroganz angewidert, rümpfe ich die Nase, ehe ich die Tür zum Schlafzimmer öffne. Soll er doch machen, was immer er will. Antonin wird nichts finden, das den Sachschaden auch nur ansatzweise decken könnte, dafür sind die Verstecke meine Bruders, in denen er die Pillen lagert, den angeblich so guten Stoff, einfach zu gut. Niemand hat sie jemals gefunden, nichtmal ich und immerhin kenne ich den Inhalt jeder einzelnen Dose. Uns zu beklauen wäre also aus zwei Gründen ungünstig, immerhin kenne ich Kennzeichen und Namen des Mannes und könnte ihn identifizieren, zudem wäre die jämmerliche Beute wohl kaum einen gekrümmten Finger wert. Das wird er auch erkennen, sollte er sich bedienen wollen, andernfalls würde er mich richtig kennenlernen, vor Gericht.

,,Dann finde es selbst heraus!"

Ich lasse mich vom Schlafzimmer verschlucken und flüchte in die Dunkelheit, denn noch bevor ich das Licht anschalte, schließe ich die Tür. Antonin muss nicht sehen, dass wir uns ein Bett teilen müssten, würden beide ein gesundes Maß an Schlaf in geregeltem Ausmaß und Rhythmus überhaupt benötigen. Mittlerweile nutze nur noch ich meine Seite des Bettes, während der restliche Platz, immer während der Anwesenheit meines Zwillings, regelrecht verwaist. Ich kann mich kaum an den Tag erinnern, an dem er noch neben mir schlief, diese Erinnerung muss genau so weit unter den ganzen aktuelleren Geschehnissen begraben sein, wie sein erster Trip.

,,Erec?"

Auch nachdem ich das Licht anschalte, kann ich meinen Zwilling nirgends erblicken. Er hat sich weder zwischen Bett und Wand versteckt, noch hockt er im Schrank. Mein Blick fährt über die geschlossenen Fenster, die so lächerlich klein sind, dass sich sogar ein Kind nicht durchquetschen könnte. Zurück im Flur fehlt von Antonin jede Spur. Vielleicht hat er erkannt, dass er hier fehl am Platz ist und hat sich verzogen. Ich wende mich ab, ohne weitere Gedanken daran zu verschwenden.

,,Erec? Bist du da?"

Die Tür zum Badezimmer öffnet sich mit dem für sie typischen quietschenden Geräusch. Sofort spannt sich mein Körper an, in Erwartung meinen Zwilling mit aufgeschnitten Armen zwischen Toilettenschüssel und Duschwanne halb verblichen vorzufinden, doch ich kann mich schnell beruhigen, denn auch das Badezimmer ist gänzlich leer und kalt. Langsam macht sich Angst in mir bereit. Wo kann er denn nur sein?

,,Lora, ich habe ihn! Wir sind auf dem Balkon."

Erschrocken fahre ich zusammen und mein Herz setzt aus, ehe es mir nahezu aus der Brust springt. Antonin ist noch hier und hat ihn gefunden? Besorgnis und Freude mischen sich in mir. Schneller als ich es bewusst mitbekommen kann, habe ich die Küche erreicht und bin fast sofort an Antonin vorbei gestolpert. Ich bekomme kaum etwas mit, als ich das Gesicht meines Bruders erblicke. Die Beine zwischen den Stahlstreben hindurchgestreckt, auf der kargen Plattform hockend, in der einen Hand einen Joint und mit der Anderen ein Brötchen festhaltend.

,,Erec!"

Ich stürze neben ihn auf meine Knie und umfasse sein Gesicht, um es behutsam zu mir zu drehen. Aufmerksam suche ich seine Haut nach Verletzungen ab, doch ich erblicke keine Einzige. Tränen sammeln sich in meinen Augen und durch die Erleichterung wird mir ganz flau im Magen. All die Horrorszenarien, die ich mir in den letzten Minuten ausgemalt habe, sind nicht eingetroffen. Die Person mir gegenüber zieht fragend eine geschwungene Augenbraue hoch. Als der Blick seiner klaren Augen, mein Gesicht erreicht, stockt mein Atem.

,,Geht es dir gut? Fehlt dir irgendetwas?"

Meine Hände wandern suchend über sein Gesicht und seinen von weiter Kleidung umspielten Körper. Meine Atmung geht stockend und ich kann weder mein rasendes Herz noch die zitternden Hände beruhigen.

,,Solcher Stress ist nicht gut für ein Baby, Lora. Entspann dich wieder. Ihm geht es offensichtlich gut."

Er muss seine Gedanken nicht aussprechen. Ich kann sie seinen Augen ablesen. Er möchte wissen, ob ich wirklich mit diesem Arschloch, der mit verschränkten Armen den schmalen Türrahmen nahezu grimmig ausfüllt, in die Kiste gestiegen bin, oder warum er sich zu einer solchen Äußerung genötigt fühlt. Mit Tränen in den Augen schüttel ich meinen Kopf und beruhige ihn, ohne einen hörbaren Laut zu äußern. Die Augen meines Gegenübers blicken forschend in meine, die nahezu identischen Blicke verhaken sich, dann zieht er mich fest an sich.

vorurteilhaftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt