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Abgrund

Es war nicht viel los an der Berg- und Talbahn. Freundlich lächelte ihr der Kassierer entgegen. „So allein am frühen Morgen in den Bergen?“ Ihr trauriger Blick ließ ihn sogleich verstummen, und er wartete erst gar nicht auf eine Antwort. Kopfschüttelnd sah er der ziemlich verloren wirkenden jungen Frau hinterher. Wer weiß, was in deren Kopf so herumschwirrte! Der nächste Fahrgast unterbrach seine Gedanken, der Dienst nahm weiter seinen Lauf.

Sie war froh, allein in der Gondel zu sitzen und schaute ohne große Anteilnahme auf die immer kleiner werdende Landschaft unter sich. Heute konnte dieser Anblick ihr Herz nicht rühren. Sie fühlte sich einfach leer. Sie dachte daran, wie sie mit ihm hier hochgefahren war, und sogleich kamen wieder die Gefühle in ihr auf, die sie damals in sich gehabt hatte. Es war ihr so vorgekommen, als seien sie gemeinsam zum Himmel empor gefahren. Sie hatten kein Wort miteinander gesprochen, nur eng aneinandergeschmiegt zusammengesessen und auf das Tal hinabgeschaut. Dabei hatte sie das Gefühl gehabt, als seien ihre Seelen miteinander verschmolzen gewesen, sie konnte seine Gedanken fühlen. Diese Einigkeit, die sie in diesem Augenblick miteinander verbunden hatte, schien wie ein Versprechen für den Rest ihres Lebens.

Doch es hatte nicht sollen sein – das Schicksal war nicht auf ihrer Seite geblieben. Es hatte gegen ihre weitere Verbundenheit entschieden. Für sie beide würde es keine gemeinsame Zukunft geben. Seit dieser unausgesprochenen Gewissheit hatte sie jeglicher Lebensmut verlassen. Sie konnte dieses Dasein nicht mehr ertragen. Ohne ihn machte es keinen Sinn. Sie wollte nur noch einmal vor dem Himmelstor stehen, wo sie einst mit ihm gestanden hatte, Hand in Hand.

Die Bahn hatte die Bergstation erreicht. Entschlossen verließ sie die Kabine und trat hinaus ins Freie. Wie damals war sie auch jetzt von dem Anblick, der sich ihr bot, überwältigt. Das Dach der Welt! So früh am Morgen hatte sie die Berge von hier oben noch nicht erlebt. Die Sonne schien selbst noch dabei zu sein, sie zu erklimmen. Sie blinzelte der einsamen Frau zaghaft entgegen. Die wenigen Menschen, die es ihr gleich getan hatten, so zeitig heraufzukommen, schienen in alle Winde verstreut. Die Bank, auf der sie mit ihm gesessen, glücklich geschwiegen und einfach das herrliche Bild der Natur genossen hatte, war frei, und sie ließ sich erfreut auf ihr nieder.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen, so wie er es getan hatte. Sie hatte ihn dabei fasziniert von der Seite betrachtet. Sie liebte diesen Anblick. Für sie wirkte er dann ganz besonders männlich. Dabei ging von ihm eine Kraft und Stärke aus, die ihr ein Gefühl von absoluter Sicherheit vermittelten. In diesem Moment hätte sie ihm ihr Leben zu Füßen gelegt. Sie hatte ihn nicht zu berühren brauchen, wusste, dass er ihre gedanklichen Berührungen spürte. Ihr ging es ja nicht anders. Es war, als liebten sie sich in diesem Augenblick, ohne auch nur eine äußere Regung zu zeigen, und sie waren sich beide dieses Geheimnisses bewusst. Es war die Erfüllung, die nur durch tiefste Liebe gegeben wurde.

Ja, mit diesem Menschen hatte sie das höchste der Gefühle erleben dürfen. Doch nun hatte sie nichts mehr vom Leben zu erwarten, zumindest nichts Positives mehr, und sie wollte Abschied nehmen, ehe der Schmerz sie vollends zerstörte und ihr ein letztes Gefühl inneren Friedens raubte. Sie wollte mit dem Gefühl des großen Glücks in ihrem Herzen sterben, ehe das Leid es vollends auslöschte. Ein Lächeln zog in ihr Gesicht. Ein letztes Mal ließ sie es von der Sonne, die mittlerweile über den Gipfeln der Berge stand, streicheln. Sie trat an den Abgrund und breitete die Arme aus. Sie fühlte sich frei wie ein Vogel, zum Fliegen bereit. Jetzt konnte er kommen, der Herr der Lüfte und sie ins Tal der Unendlichkeit tragen, wo Träume niemals enden würden...

Sprüche 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt