Wiedergeburt

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Wie viele Sekunden waren vergangen? Es fühlte sich an wie ein kurzer Schlag auf die Schläfe, ein Augenblinzeln, in dem man alles zuvor gesehene vergaß.
Leo versuchte, sich aufzurichten, ehe ihm zwei Frauen in weißen Kitteln zur Hilfe eilten.

"Nicht so schnell. Ganz vorsichtig... Herzlich Willkommen zurück im Leben", begrüßte ihn eine der Frauen, die augenscheinlich Krankenschwestern gewesen sein mussten.

"Was für ein Tag ist heute?", schoss es aus Leo heraus, als hätte es irgendeine Rolle gespielt.

"Es ist Montag, Herr Dürer. Der 17. Januar 2067 und wir befinden uns im Uni-Klinikum Hamburg Nordwest. Was Sie gerade verspüren, ist ganz normal. Sie haben wahrscheinlich eine Amnesie erlitten, ansonsten fehlt Ihnen aber nichts. Das kommt bei fast allen Patienten einer Bewusstseinsweitergabe vor. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen."

Bewusstseinsweitergabe? Leo hatte noch nie davon gehört und das erwähnte Krankenhaus kam ihm genau so wenig bekannt vor, obwohl er in Hamburg aufgewachsen war. Er wurde nervös.

"W-was? Was erzählen Sie mir da? Wo ist meine Frau?"

Die Krankenschwestern schmunzelten Leo verwirrt an, während eine von Ihnen seine Werte auf dem neben seinem Bett platzierten Monitor überprüfte.
"Ihre Frau?", eine der Schwestern blätterte in Leos Patientenakte auf dem Klemmbrett, „Herr Dürer, Sie haben vor der OP keine Verwandten angegeben. Können Sie mir denn den Namen Ihrer Frau verraten? Falls das unser Fehler gewesen sein sollte, werden wir ihn sicherlich aufklären können."

Den Namen? Leo fühlte sich ertappt, als wäre er ein Zauberer, dessen bester Trick soeben durchschaut wurde.

"Ich... ich weiß nicht. Meine Frau. Meine Tochter", stammelte er vor sich hin und fing an zu realisieren, wo er sich befand. Er sah sich um. Neben ihm lag ein weiterer Patient, der offensichtlich beatmet werden musste. Trotz der Präsenz von drei anderen Menschen im Raum fühlte er sich allein. Wie ein Kind, das im Einkaufszentrum verlorenging, nur ohne die Lautsprecheransage, dass seine Eltern ihn bitte abholen möchten.

"Ich kann verstehen, dass Sie erstmal etwas verwirrt sind, Herr Dürer. Aus diesem Grunde hat Dr. Pink vor einiger Zeit ein Video aufgenommen, das allen Patienten mit starken Nebenwirkungen bei uns im Hause gezeigt wird. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie nach dem Abendessen in den Konferenzsaal."

Beim Wort Abendessen blickte Leo reflexartig nach draußen. Der schneebedeckte Rasen vor dem Fenster schien die Dunkelheit minimal zu erleuchten, ansonsten war es stockdüster. Lediglich einige Laternen in der Ferne ließen erahnen, wie weitläufig das Krankenhausgebäude sein musste.

"Ist das für Sie in Ordnung?", fragte die Schwester den vor sich hin träumenden Leo, der seinen Blick mit offenem Mund durch das Zimmer schweifen ließ. Das Abendbrot stand schon auf dem Rundtisch in der Ecke bereit. Leonard Dürer, Zimmer 86 war auf dem gelben Post-It zu lesen, der auf der Klarsichtfolie über dem Teller mit dem Schwarzbrot klebte.

"Darf ich meine Krankenakte sehen? Meine Frau, sie muss da irgendwo vermerkt sein." Leo gab die Hoffnung nicht auf, auch wenn er sich weder an ihren Namen, noch an ihr Aussehen erinnern konnte. Es war ein Gefühl wie ein Brandmal, das einem Rind verpasst wurde. Das Tier wusste nicht, wie das Zeichen aussah und es wusste auch nicht, wozu es gut war oder wo es herkam. Doch es erinnerte sich daran, dass es existierte und an den Phantomschmerz, den es bei jedem Gedanken noch hinterließ.

Die eine Krankenschwester sah die ältere und wahrscheinlich erfahrenere an, die verhalten mit den Schultern zuckte.
"Ich wüsste nicht, was dagegen spricht."
Sie übergab Leo seine Patientenakte.
Wie ein Polizist, der annahm einer Fährte zu folgen, durchblätterte er das Papier in Windeseile. Viel fachchinesisch, keine wirklich brauchbaren Informationen für Laien. Ihm wurde schwindelig. Er blätterte nochmal von hinten nach vorne.

OP-Bericht. Bewusstseinsweitergabe erfolgreich abgeschlossen, keine Komplikationen. Empfehlung für den Krankenhausaufenthalt: drei Tage. Mehr konnte er den komplizierten Seiten auf die Schnelle nicht entnehmen.
Vorsichtig versuchte die jüngere Schwester ihm das Klemmbrett wieder aus den Händen zu entnehmen.
"Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn Sie sich den ganzen Prozess vom Oberarzt erklären lassen. Sortieren Sie Ihre Gedanken, essen Sie etwas und die Welt wird schon ganz anders aussehen."

Leo gab die Akten aus der Hand. Er hatte keine Kraft, sich großartig zu widersetzen und die Schwester hatte nicht ganz Unrecht. In seinem Kopf herrschte totales Chaos, jeder sich anbahnende Gedanke war wie Rauch, den er versuchte mit bloßen Händen zu greifen. Obwohl er erst ein paar Minuten wach war, fühlte er sich kaputt und niedergeschlagen. Die Schlaftrunkenheit erledigte den Rest, ihm wurde schwindelig und er musste sich übergeben. Orientierungslos sprang er von seinem Bett in den Raum und schleppte sich im OP Hemd in Richtung Badezimmer, doch schaffte es nicht ganz. Er übergab sich direkt vor dem Personal und sackte in sich zusammen. Auf dem Boden kauernd wollte er weinen, doch nicht einmal dazu reichte die Energie.

"Oh Gott, Herr Dürer. Kommen Sie hoch, ich helfe Ihnen", sorgte sich die ältere Krankenschwester, "Jenny, fass' mal mit an."
Die jüngere schmiss ihr Klemmbrett auf die Fensterbank und zusammen hieften sie Leo zurück auf sein Bett.
"Herr Dürer, tun Sie mir einen Gefallen. Ruhen Sie sich aus, Ihr Bewusstsein war fast ein Jahr lang nicht in einem biologischen Körper und muss sich erst wieder daran gewöhnen."

Die Krankenschwester redete weiter, doch es kam nicht mehr bei Leo an. Er fiel zurück an den Ort, wo er vor ein paar Minuten hergekommen war, in einen tiefen Schlaf.

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