Kapitel 1

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1966

Floyd

Es regnete und im Radio spielte ein grässlicher Song. Floyd saß am Küchentisch und arbeitete an einer Reportage für die Schülerzeitung. Es war totlangweilig. Und dunkel. Allerdings war Floyd ganz einfach zu träge um sich zu erheben und das Licht einzuschalten. Dem Himmel sei Dank kam just in diesem Moment seine Mutter herein. Tadelnd sah sie ihn an, wie er da im finsteren Zimmer hockte und über seinen Schularbeiten brütete. Er gab sich extra leidig und verzog den Mund. Seine Mutter, eine hochgewachsene Frau mit glänzendem, kinnlangen Haar und großen schönen Augen, die sie an ihren Sohn weitervererbt hatte, trat zu ihm heran - nicht ohne die Deckenbeleuchtung anzuknipsen - und setzte sich. "Was ziehst du denn so eine Schnute, Schätzen, hm?" Floyd warf den Stift beiseite. "Es gibt rein gar nichts Aufregendes, über das ich berichten könnte. Nichts.", erklärte er frustriert. Seit Tagen überlegte er für die nächste Ausgabe der >Wise Young Man< die bereits nächste Woche erscheinen sollte. Er war der Chefredakteur, und wie üblich blieb all die Arbeit an ihm hängen. Von siebzehnjährigen Jungen konnte man anscheinend nur äußerst selten konsequentes Recherchieren und Abtippen erwarten. Den vergleich zu gleichaltrigen Mädchen hatte Floyd kaum - denn er ging auf eine katholische Privtschule die ausschließlich junge Knaben aufnahm. Und in den sechziger Jahren im ländlichen Illinois gab es nicht sonderlich viel Gelegenheit anderweitig das weibliche Geschlecht zu erforschen. So wie an diesem Tag quälte sich Floyd beinahe immer. Vielleicht war er sich dessen damals gar nicht bewusst, aber er strebte nach dem Ungewissen, dem Aufregenden, dem Leben.
Seine Mutter, Georgina Turner, erhob sich seufzend und begann ein Sandwich zuzubereiten.
Ebenso wie Floyd es zu diesem Zeitpunkt nicht klar war wie gerne er nach Neuem gestrebt hätte, so schaffte es Georgina allen möglichen Zweifel daran auszublenden, wie sehr sie ihren einzigen Sohn möglicherweise überbehütete und von der Welt abschottete.
Tatsache war dass sie es vermutlich gar nicht besser wusste - denn Georgina selbst war in ihrem Leben nie über die Grenzen Illinois hinausgekommen, hörte kein Radio und nahm an, der tägliche Plausch mit den Nachbarinnen am Gartentor genüge völlig sie auf dem Laufenden über die Welt und ihre Ereignisse zu halten.
Sie war eine intelligente, liebevolle Mutter - nur hatte ihr nie jemand beigebracht ihren ausgezeichneten Verstand zu nutzen und auszukundschaften. Durch das damalige Frauenbild war dies auch nicht von Nöten - denn bereits bei ihrer Geburt war ihr Vater davon überzeugt sie gehörte an den Herd in die Küche.
Es ist schwierig so etwas zu verstehen wenn man es nicht selbst erlebt hat - und es ist schwierig das so kritisch zu sehen wenn man nichts anderes kennt als dieses System.
Floyd selbst war ebenso klug wie seine Mutter und unterhielt sich viel mit ihr. Doch wenn er ihr die Romane und Comics zeigen wollte die er las, und sie zu überreden versuchte es ihm gleichzutun wechselte Georgina schnell das Thema.
Nun stellte sie ihm gerade den Teller mit dem Sandwich vor die Nase. Floyd vergaß seinen Verdruss über die Langeweile und begann zu essen.
Seine Mutter lächelte zufrieden, strich ihm über den Kopf und ging ins Wohnzimmer um weiter abzustauben.

Maren

"Was denkst du, tust du da wohl?", donnerte eine tiefe Stimme hinter ihr. Sie kniff die Augen zusammen und fluchte leise. Ihr Vater stand in der Tür, die Arme in die Hüften gestemmt. Beinahe wäre es ihr gelungen unbemerkt in ihr Zimmer zu huschen. Jetzt sah sie zu dass sie die Bücher, die sie sich vor die Brust hielt wie ein Schutzschild, möglichst gut mit ihren weiten Ärmeln verbarg. Als sie sich zu ihm umdrehte sah sie wie der Schnauzbart ihres Vaters ungeduldig zuckte. Er war ein breiter, gewaltiger Mann mit Brille und wenig Haar. Und wie üblich schlug ihr eine Fahne Bier ins Gesicht als er den Mund aufmachte. "Was hast du da? Zeig mal her-" Er wollte nach den Büchern grapschen, doch Maren wich schnell einen Schritt zurück. "Die sind für die Schule.", log sie ohne rotzuwerden - denn wenn sie überleben wollte musste sie sich mit Notlügen aushelfen. Nun bekam ihr Vater doch endlich eines der Bücher zu Fassen. Er warf einen Blick auf den Titel, lachte spöttisch auf und ließ das Buch den Flur entlang segeln, wo es mit einem lauten >Klatsch< gegen die Wohnungstür schlug. "Virgina Woolf. So einen verbiesterten Frauenschund lassen die euch da lesen? Das sind nix als Flausen, was die Frau da geschrieben hat, glaub mir. Joe hat mir das mal erklärt. Was hast'n da noch?" Maren ließ widerwillig zu dass ihr Vater, ein im Moment arbeitsloser Fabrikarbeiter der auf den Namen Garry Millstone hörte, ihr die restlichen Bücher abnahm, die ausnahmslos von weiblichen Autoren stammten. Bei jedem einzelnen fand er etwas auszusetzen.
Das Ende des Lieds war dass ihr Vater all die Bücher mitnahm und im Schlafzimmer verstaute, wo genau wusste Maren nicht. Er kam heraus und musterte sie prüfend. "Und was hast du da überhaupt an?" Abfällig wedelte er vor seiner Tochter herum, die eine geblümte, lockergeschnittene Bluse und ihr einziges Paar Jeans trug. Das Haar fiel ihr wellig und lang über die Schultern - seit Jahren versuchte man sie zu überreden es endlich abschneiden und in Form bringen zu lassen. Nie mit Erfolg. "Sieht ja billig aus. Sieh zu dass du dich bis zum Abendessen umziehst, deine Mutter kocht schon." Maren bis sich auf die Lippe um nichts zu sagen. Ihr brannte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch sie wollte die einigermaßen gute Laune ihres Vaters nicht zu sehr reizen - Die Blauen Flecken an ihren Armen und Beinen waren noch nicht einmal abgeheilt. Sie schloss die Tür und warf sich auf ihr Bett.
Ein paar Tränen der Wut rannen ihr über die Wangen.
Sie rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke ihres kleinen Zimmers. Ebenso wie Floyd sich zutode langweilte überprivilegiert zu sein hasste Maren es der Unterschicht anzugehören - und weder tolerante Eltern noch sonderlich gute Schulbildung zu haben.
In einem halben Jahr würde sie zwar die Schule abgeschlossen haben - und das vermutlich wie üblich als Klassenbeste und Abschlussrednerin - doch dann stand ihr eine Welt der Langeweile und sturen Arbeit im Eisenwahrengeschäft ihres Großvaters bevor.
Maren war eben achtzehn geworden, verschlang jedes Buch das sie zufassen bekam - wenn sie nicht gerade von ihren Eltern erwischt wurde - und hörte heimlich mit ihren Freunden Musik die zutiefst anstößig und ganz und gar nicht sittlich war. Maren träumte von einem Leben außerhalb des schmutzigen, grauen New Yorks, in dem sie lebte seit sie denken konnte. Weit oben in einem der Hochhäuser in einer Gegend New Yorks, die an die Virtel und Ghettos der Schwaren grenzte, wurde jedes Individuum, das danach strebte mehr aus sich zu machen von den tonnenschweren Betonmassen und Eingefahrenheit seiner Erziehungsberechtigten klein gehalten bis es schließlich abgestumpft und müde in den Platz ganz unten in der Gestellschaft fiel und bis zu seinem Tod dort blieb.
Viele ihrer Freunde aus der Gegegend erwartete genau das selbe Schicksal.
Doch im Gegensatz zu ihnen war Maren nicht dazu bereit sich von der Gesellschaft kaputt machen zu lassen. Sie war zu belesen, zu talentiert, zu stur um zuzulassen dass man ihr das Einzige nahm was schon seit jeher ihr ganz allein gehört hatte - ihr Talent und ihr unbändiger Wille nach Freiheit.
Bereits seit einigen Jahren schnitt sie jeden Zeitungsartikel aus der ausnahmsweise nicht von New York handelte, sammelte jede Kollegebroschüre und überlegte sich einen Weg aus diesem tristen Leben.
Doch mit bisher eher magerer Ernte - sie besaß 600 Dollar, eine ramponierte Gitarre und ein paar zerlesene Taschenbücher über Frauen die sie bewunderte.
Insgeheim war ihr Plan eines Nachts zu verschwinden und nie mehr wieder zu kommen.
Doch das Schicksal hatte andere Pläne für sie.
Maren ahnte noch nichts davon, doch schon bald würde sich ihr Leben drastisch verändern.
Sehr bald.

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