Maren
Eine halbe Stunde später, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, zog sich Maren widerwillig um. Sie tauschte die weiten, bunten Klamotten gegen ein formloses grau-braunes Kleid, weiße Strümpfe und flocht sich das Haar ordentlich zu einem Zopf.
Dann nahm sie sich zusammen und ging in die Küche.
Ihre Mutter, klein und sehr dünn, stand am Herd und kochte etwas das vermutlich weder sonderlich gesund noch nahrhaft war. Es tat Maren im Herzen weh wenn sie sah wie ihre Mutter immer mehr in sich zusammenfiel - ihr Haar wurde grau und spröde, die Knochen ihres Schlüsselbeins schienen bald die papierdünne Haut zu durchstoßen. Und dennoch aß Rosa Millstone nie mehr als unbedingt nötig - und auch jetzt, als sie das Essen portionierte, nahm sich ihre Mutter lediglich ein wenig Eintopf. Während Garry Millstone, ein prallgefressener und großer Mann, etwa dreimal so viel vor die Nase gestellt bekam. Er saß auf einem Stuhl am kleinen, billigen Küchentisch und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Wütend beobachtete Maren wie ihr Vater ungeduldig mit der Hand wedelte und darauf wartete dass seine Frau ihn bediente. "Wird's bald. Ich hab Hunger, Scheiße nochmal." Er sah kaum von seiner Zeitung auf. Rosa kam herangeschlurft und stellte ihm den Teller vor die Nase. Als sie sich über ihn beugte schlich sich ein hässliches, ekelhaftes Lächeln auf das fette Gesicht ihres Vaters. Er packte seine Frau an der Hüfte und grabschte nach ihr - alles was er zu fassen bekam wurde grob angefasst. Maren sah wie sich ihre Mutter zuerst vor Schreck versteifte, dann versuchte sich von ihrem Mann loszumachen. Ihr Gesicht war vor Schmerz und Ekel zu einer leidenden Fratze verzerrt. Garry Millstone interessierte das nicht - er lachte hämisch.
Maren Millstone störte es hingegen sehr - und im Gegensatz zu ihrer kaputtgearbeiteten Mutter besaß sie genug Kraft um gegen ihren Vater einzuschreiten. "Hör auf! Lass sie sofort los!", verlangte Maren wütend. Dabei vergriff sie sich so schlimm im Ton dass ihr selbst Angst und Bange wurde. Hätte sie so etwas gesagt wie: "Daddy, lass uns doch lieber essen? Ich dachte du hast Hunger?", wäre es bei Weitem nicht so schlimm gewesen. Doch diese freche, tollkühne Forderung erreichte ihren Vater sofort - und löste in ihm rasende Aggression aus. Er gefror in der Bewegung, die Hand noch in der Bluse seiner Frau. Und dann, mit einem Ruck der das gesamte Haus zu erschüttern schien, stieß er seine Frau von sich, stand auf und trat auf seine Tochter zu.
Garry Millstone gehörte zu den Menschen die zuerst zuschlugen und dann sprachen. Er schlug Maren so fest ins Gesicht dass ihre Lippe aufplatzte und sie gegen die Tür hinter sich fiel.
Die Küche wurde immer kleiner, ihr Vater immer größer.
"Red noch einmal so mit mir, du kleines Stück Scheiße, und dir vergeht das Lachen endgültig. Verstanden?"
Er drehte sich um und setzte sich wieder. Er wartete nichtmal auf eine Erwiderung seiner Tochter - er ging davon aus dass eine kräftige Ohrfeige auch diesen Aufstand seines Kindes widerstandslos zerschlagen hatte. Doch Marens gesamter Körper brannte noch immer vor Zorn.
Nun trat ihre Mutter zu ihr und reichte ihr einen Waschlappen. Immer die gleiche Prozedur.
Alle paar Tage wagte Maren es aufmüpfig zu werden - und kassierte Schläge.
Ihre Mutter kümmerte sich dann meist um sie, jedoch ohne sich je zu bedanken oder ihrer Tochter ein aufmunterndes Lächeln zu spenden.
Rosa Millstone war schon vor sehr langer Zeit gebrochen worden.
Sie hatte jeden Widerstand, jede Hoffnung, jede Liebe auf ihrem schweren Lebensweg verloren.
Rosa, die Tochter eines Eisenwahrenhändlers, war mit siebzehn schwanger geworden - und zu der Ehe mit Garry gezwungen worden.
Falls zwischen den beiden jemals etwas wie Liebe geherrscht hatte, war sie längst von Garry zerschlagen und erstickt worden.
Was ihn jedoch nicht davon abhielt den Körper seiner Frau regelmäßig zu benutzen - das konnte Maren durch die Zimmerwände hören.
Es war schrecklich.
Es war ein Albtraum für jeden der hier lebte. Auch für Garry.
Denn Garry war ein zutiefst unzufriedener, von seinem Leben enttäuschter Choleriker der schon immer nach mehr gestrebt, es jedoch nie erreicht hatte.
Und so wäre auch dieser Abend genau wie immer verlaufen - hätte Maren es geschafft die Wut in ihrem Bauch ganz tief zu begraben, sodass sie für eine kurze Weile schwieg, so wie sonst immer.
Doch an diesem Tag schaffte sie es einfach nicht ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.
Sie begannen zu essen, und ihr Vater trank sein vermutlich achtes Bier. Und das Bier ließ ihn redlesig werden. Und beleidigend.
"Sei nicht traurig, Maren.", lallte er. "Du findest auch irgendwann den richtigen Mann. Dann musst du nicht länger eifersüchtig sein wenn dein Papa deiner Mama mehr Aufmerksamkeit schenkt. Der Kerl, den du kriegst, erzieht dich schon. Der treibt dir die ganzen Flausen aus, das kannt du glauben. Wahrscheinlich brauchst du nur jemanden der dich mal richtig gut durchfickt -" Maren fuhr von ihrem Stuhl auf, so schnell dass dieser nach hinten umkippte und mit einem lauten Knall auf dem Boden aufschlug. "Was bist du eigentlich für ein perverses Schwein?!", brüllte sie, die Hände auf die Tischpaltte gestemmt.
Kurz, ganz kurz herrschte Stille - und dann stand ihr Vater auf, packte sie und warf sie gegen die Wand. Sie rutschte daran herab und blieb seitlich auf dem Boden liegen. Ihre Ohren schrillten, ihr gesamter Körper schmerzte. Doch bevor sie sich aufrappeln konnte war ihr Vater bereits da - und trat ihr in den Bauch. Mehrmals. Sie krümmte sich. Ihr Vater schrie. Und es schien als hörte er nie mehr auf zu schreien. Ihre Mutter war verschwunden.
Irgendwann wurde alles um sie herum dunkel - ein Segen.
Sie fiel in ein schmerzfreies Loch.Floyd
"Okay - was haben wir?" Floyd setzte sich halb auf sein Pult und sah abwartend in die Runde. Sein Blick wurde von enttäuschend wenig Augenpaaren erwidert. Die meisten seiner Kollegen kritzelten gelangweilt auf ihren ansonsten leeren Notizblöcken herum, ohne wirklich anwesend zu sein.
Entnervt warf er seinen Bleistift gegen die Tafel. Das holte ein paar Redaktionsmitglieder der Schülerzeitung in die Gegenwart zurück. Müde sahen sie zu ihm auf. Kein Wunder - es war bereits vier Uhr Nachmittags, die Schule war vorbei. Jeder in diesem Raum wollte einfach nur noch nach Hause um die wenige freie Zeit die ihm blieb zu nutzen. Auch Floyd war erschöpft - er fühlte sich wie gegen die Wand geworfen.
Als es ein paar weitere Sekunden totenstill blieb seufzte Floyd und machte eine entnervte Handbewegung zur Tür. "Haut schon ab, na los." Die Jungen stürzten auf den Flur. Frustriert ließ Floyd sich rücklings auf das Pult sinken, einen Arm über die Augen gelegt. Er bemitleidete sich gerade ein paar Minuten, da räusperte sich jemand im stillen Redaktionszimmer.
Erschrocken fuhr er auf und blinzelte ins helle Zimmer. Vor ihm stand John, ein Junge mit dunklem Haar und vielen Sommersprossen. Er war eine Stufe über Floyd und kein Mitglied der Schülerzeitung. Lässig lehnte er an der Tür und musterte Floyd interessiert. "Harter Tag?", fragte er und seine Stimme klang ungewöhnlich tief für einen Achtzehnjährigen. Floyd rutschte vom Pult. "Ein bisschen vielleicht.", gab er schulterzuckend zu. Es wunderte ihn außerordentlich dass der Junge mit ihm sprach - sie kannten sich kaum. Floyd wusste dass John Basketball spielte und ganz gut in Biologie war. Ob er ihn wegen eines Projekts brauchte?
Doch John schien nicht an schulischen Themen interessiert. Er zog eine Zigarette hinter dem Ohr hervor und nickte lässig mit dem Kopf. Niemand den Floyd kannte nickte so lässig. "Komm mit.", nuschelte John und zündete die Zigarette an. Er schüttelte das Streichholz aus - lässig. Er stieß sich vom Türrahmen ab und schlenderte zum Ausgang. Floyd folgte ihm. Egal wie oft er versuchte es wegzuschieben, ihm kam immer wieder das Wort >lässig< in den Sinn.
John trat durch die Flügeltüren hinaus auf die Straße und ging in eine dunkle Gasse hinter der Schule. Floyd hatte gehört dass sich dort die Raucher und Coolen rumdrückten. Vor Aufregung flatterte sein Puls ein bisschen. Er war nicht unbedingt ein Loser, aber als sonderlich beliebt galt er nunmal auch nicht. John lehnte erneut - diesemal an der mit Schmierereien bedeckten Backsteinmauer. Es war so dunkel in der Gasse dass Floyd lediglich das Glühen der Krische an Johns Zigarette sehen konnte, die ab und an das markante Gesicht des Jungen rot aufleuchten ließ.
Mit einem Mal reichte John ihm die Zigarette - und Floyd wurde aus seiner Trance gelöst. Er blinzelte, dann nahm er die Zigarette. Dabei berührte er die Hände des Jungen. Die Zigarette war überraschend leicht.
Er musste etwas überfordert ausgesehen haben, denn John lachte in sich hinein. "Zieh einfach dran. Und tief inhalieren. Wie das Erkäktungsbad das dir deine Mutter aufzwingt wenn du krank bist."
Floyd lachte. "Wenn du mich daran erinnerst kann ich erst recht nicht inhalieren." Sie waren beide überrascht über diese schlagfertige Antwort und grinsten sich an. Schließlich tat Floyd wie befohlen - und meinte im ersten Moment es als gar nicht so schlimm zu empfinden. Dann blieb ihm der Rauch ihm Hals stecken und er hustete ausgiebig. John klopfte ihm lachend auf den Rücken.
Floyd klammerte sich an dem Jacket des Jungen fest, dann richtete er dich irgendwann wieder langsam auf. "Geht's wieder?" Floyd sah zu John auf. Er hatte braune Augen. Und sehr dichte Wimpern. "Klar.", keuchte Floyd. Ganz, ganz kurz blieb die Zeit stehen.
Und dann bewegte sich John.
"Na dann - bis morgen, Kumpel. Selbe Zeit?"
Und der lässige John spazierte lässig aus der Gasse, den Stummel der selben Zigarette fertigrauchend, an dem kurz zuvor Floyd noch gezogen hatte.
Als er um die Ecke verschwunden war fiel Floyd gegen die Wand und schloss kurz die Augen.
Ein netter Kerl, dachte er mit klopfendem Herzen.
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We Are The Change
Genç Kurgu1968. William Floyd Turner ist gerade achtzehn, der Sohn eines reichen Anwalts und hat keine Ahnung wie es außerhalb seines goldenen Käfigs in der Welt zugeht. Der Vietnamkrieg, die Hippiebewegung, die Menschenmassen und Sit-Ins - All das wäre beina...