Regel Nummer 4

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"Du kümmerst dich nur um dich selbst!", keifte sie. "Warum kannst du mir nicht einmal helfen?"
Ihre beste Freundin stand wütend vor ihr. Wie eine Furie starrte sie sie an, als würde sie sie am liebsten an Ort und Stelle erwürgen wollen.

Aber sie hatte Recht. Ihre beste Freundin hatte Recht.
Seit sie keine Familie mehr hatte, hatte sie sich nicht mehr um ihre Freundschaft gesorgt. Sie war nicht mehr jeden Tag zu ihr gekommen. Sie hatte nicht mehr jedes noch so kleine Problem ihrer besten Freundin gelöst.

Es war nur richtig, dass sie jetzt so wütend auf sie war.

Die schlanke Gestalt des blonden Mädchens zeichnete sich nur als Schatten vor der blendenden Sonne ab. Sie konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber sie spürte die Wut und Enttäuschung. Als sie sich von ihr abwandte, hatte sie noch kein einziges Wort zu ihrer Verteidigung sagen können.

Aber es war richtig. Sie hatte einen Fehler gemacht und musste die Konsequenzen nun ertragen.

"Überlege dir, wie du dich entschuldigen wirst, sonst kannst du unsere Freundschaft ein für alle Mal vergessen!"

Sie nickte. Das war richtig.

Ihr Vater und ihr jüngerer Bruder waren tot. Ihre Großeltern schon lang. Ihre Mutter nun auch. Aber hatte sie dadurch das Recht von ihrer besten Freundin Verständnis zu erwarten? Gar Hilfe zu fordern?

Nein. Denn ihre beste Freundin kannte dieses Gefühl nicht. Dieses Gefühl der vollkommenen Verlassenheit. Und sie hatte eigene Sorgen und Probleme. Probleme, um die sie sich normalerweise sofort gekümmert hätte, damit ihre Freundin nicht weiter leiden müsste.

Als sie weg war, sah sie ihr noch lange nach. Sie konnte nicht weinen, denn sie kannte ihre Fehler. Sie wusste, dass sie an allem selbst schuld war.

Und es war richtig.

In ihrem Kopf sammelten sich schon die Ideen, wie sie sie besänftigen konnte. Denn ihre Freundin brauchte sie. Sie konnte sie nicht einfach im Stich lassen.

Eine beruhigende Wärme stand plötzlich neben ihr. Als sie aufsah, war er da. Auch er sah ihrer Freundin nach. Doch sie konnte in seinem Gesicht nicht lesen, was er empfand. Empfand er überhaupt etwas?

Als er auf ihre zusammengekauerte Gestalt herabsah, glaubte sie ein Kopfschütteln ausmachen zu können. Doch es war so zart, dass es augenblicklich wieder aus ihren Gedanken verschwand.

"Regel Nummer vier", setzte er ein und seine weiche Stimme umgab sie ganz.

"Sorge dich nicht um Menschen, die sich nicht um dich sorgen."

°°°

-Joiy

Sieben goldene Regeln des Lebens | ShortstoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt