Regel Nummer 6

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"Wie können Sie es wagen?!"

Der Mann vor ihnen schrie die Betreuerin seines Sohnes nun schon das zweite Mal an. Gestern war es genauso.

"Wie kommen Sie auf die Idee, meinem Sohn einfach die falschen Sachen anzuziehen?"

Die junge Frau zuckte zusammen. Sie war noch nicht sehr lange in diesem Kindergarten angestellt. Erst seit einer Woche. Es war ganz natürlich, dass sie da noch nicht genau wusste, welchem Kind welche Schuhe gehörten.

Sie wollte gern eingreifen. Doch wie immer traute sie sich nicht auch nur einen Schritt nach vorn zu setzen. So konnte sie nur tatenlos zusehen. 

Er stand neben ihr und wartete. Er würde nichts tun. Er mischte sich nie ein. Es wunderte sie, dass das keine seiner Lebensregeln war, die er ihr beibrachte.

"Wenn das noch einmal passiert, werde ich dafür sorgen, dass Sie gefeuert werden!"

Die junge Erzieherin kämpfte mit den Tränen. Der Sohn des Mannes stand hinter seinem Vater und beobachtete die Szene genau. Das Kind hatte bereits jetzt ähnliche Charakterzüge wie der Erwachsene.

"Bitte, es tut mir leid. Ich werde besser aufpassen. Aber bitte, lassen Sie mich weiterhin hier arbeiten", flehte die Erzieherin.

Bevor der Vater etwas erwidern konnte, kam ein junger Mann um die Ecke. Er war sehr groß und hatte eine ruhige Ausstrahlung, die ihr sehr bekannt vorkam. Ihr Blick wandte sich ihrem Begleiter neben ihr zu. Tatsächlich schien es, als würde sich in seinen Augen ein winziges Lächeln bilden.

Der neu Hinzugekommene blieb vor dem Vater stehen, die Hände lässig hinter seinem Rücken verschränkt. Er lächelte dem Älteren freundlich zu und nickte zur Begrüßung.

"Darf ich fragen, welches Problem es hier gibt?"

Der Vater runzelte seine Stirn. Sein Sohn tat es ihm nach. "Wer sind Sie?", fragte er barsch.

Der junge Mann lächelte. "Ich bin der Leiter dieses Kindergartens. Also, wo liegt das Problem?"

Der Vater räusperte sich und richtete sich auf, um mit dem Jüngeren auf Augenhöhe zu kommen. "Diese Erzieherin hier, verwechselt ständig die Kleidung der Kinder. Das kann doch nicht sein. Ich habe ihr letztes Mal schon meine Meinung gesagt, aber wie man sieht hat sich nichts verändert."

Der junge Mann nickte und lächelte weiterhin. "Ich weiß, dass Sie sie bereits mehrmals hier im Korridor angeschrien haben. Und ich weiß auch, dass sie sich immer entschuldigt hat", antwortete er höflich. 

"Ich gebe zu, dass es nicht vorteilhaft ist, wenn die Kinder nicht ihre eigenen Schuhe tragen. Diese junge Frau hier ist aber erst letzte Woche zu uns gekommen. Ich möchte Sie deshalb bitten, noch etwas Geduld mit ihr zu haben und ihr vielleicht entgegen zu kommen und Ihrem Jungen nicht jeden Tag andere Schuhe anzuziehen."

Dem Vater blieb jede Erwiderung im Hals stecken. Er blinzelte mehrmals verwirrt.
"Ja, natürlich. Das wusste ich nicht."

Der Leiter des Kindergartens nickte wissend. "Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Wir bemühen uns, dass so etwas nicht wieder vorkommt. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden."

Damit verschwand er mit großen, ruhigen Schritten hinter der nächsten Ecke. 
Vater und Sohn packten hastig alles zusammen und eilten aus dem Haus. Die Erzieherin atmete erleichtert aus.

"Wie?" Sie war sprachlos. Wie war das möglich? 

Der junge Mann neben ihr hatte die selbe Haltung wie der Leiter des Kindergartens vorher. Sie waren sich wirklich ähnlich.

"Regel Nummer sechs", sagte er mit ein wenig Stolz in der Stimme.

"Höflichkeit sollte immer an erster Stelle stehen."

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-Joiy

Sieben goldene Regeln des Lebens | ShortstoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt