Kapitel 3
Kyron
»Und sonst gab es keine auffälligen Vorfälle? Keine weiteren Sichtungen von Schattenwesen?«, hakte mein Vater argwöhnisch nach und sah mich über seinen Schreibtisch aus Edelholz hinweg fragend an.
Mein Vater war eine sehr akkurate Person. Sein Arbeitsplatz war sauber und aufgeräumt. Unterlagen, Schreibutensilien und sonstige Bürogegenstände sorgfältig sortiert und griffbereit. Alles, was er je bearbeitet hatte, lagerte er in dicken Ordnern in einem großen Schrank an der Seite, die gewissenhaft beschriftet waren. Zwar besaß er einen Laptop, mit dem er alles in unserem internen System speichern konnte, doch Technik gegenüber war er grundsätzlich misstrauisch, weil man leicht gehackt werden konnte. Manchmal glaubte ich, dass er einen Kontrollzwang hatte. Genauso wie er ein wenig paranoid war.
Vorsichtshalber befand sich in der Schublade zu seiner Rechten ein Geheimfach, in dem eine selbstladende Pistole und Gift versteckt waren, damit er sich gegen mögliche Einbrecher und Angreifer verteidigen konnte. Falls sie den Fluss, die Mauern und sonstige Sicherheitsvorkehrungen überwunden hatten und an den Wachen vorbeigekommen waren.
Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte mit emotionsloser Miene den Kopf. Die Hände hatte ich hinter meinem Rücken verschränkt, mein Haupt aufrecht erhoben, um ihm meinen Respekt und meine Gehorsamkeit zu signalisieren. »Nein, Vater. Dieses Mal gab es keine Auffälligkeiten in meinem Sektor.«
Noch während ich ihm die Lüge auftischte, musste ich an die Begegnung mit dem Schattenwesen zurückdenken. Wie das Mädchen mich angesehen hatte. Ich war noch nicht so vielen jungen Schattenwesen begegnet, da sie sich meist verborgen hielten, um nicht gefasst zu werden.
Entweder war sie unfassbar dumm und naiv oder durch und durch bereit zu sterben. Vielleicht auch nur ein aufmüpfiges Mädchen mit einer zu großen Klappe. Missmutig musste ich daran denken, wie sie mir Konter gegeben hatte. Wie sich ihre Lippen zu einem selbstgefälligen Lächeln verzogen hatten. Der einzige Grund, weshalb ich meinen Vater belog, war die Tatsache, dass mir ein Schattenwesen entwischt war. Ich war sein Sohn, sein einziger Stolz und dazu noch Wächter in Ausbildung, was bedeutete, dass ich mir keine Fehler erlauben durfte. Würde er die Wahrheit erfahren, dann wäre er nicht nur enttäuscht. Meine Karriere als Wächter stünde auf dem Spiel, dabei war ich einer der besten in meinem Jahrgang. Ich wollte nicht sein Nachfolger werden. Ich wollte so werden wie Mum. Sie war eine Wächterin gewesen, die gegen das Böse, die Schattenwesen, gekämpft hatte. Deswegen konnte ich unmöglich zulassen, dass mein Vater davon erfuhr. Ebenso wenig wollte ich mich von meinen Freunden auslachen lassen. Also blieb ich stur bei meiner Lüge und tat so, als hätte ich einen langweiligen Routinetag hinter mir.
Mein Vater drehte nachdenklich einen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern. Auf den ersten Blick wirkte er mit seinem faltenfreien Anzug und dem leicht melierten Haar wie ein Geschäftsmann. So wie seine Kleidung und sein Büro war auch sein Gesicht makellos. Er rasierte sich jeden Tag und legte immer das gleiche Aftershave auf. Seine kleinen braunen Augen wirkten ernst und aufmerksam. Er hatte den Blick eines Adlers.
Obwohl er mein Vater war, flößte er mir Respekt ein, weshalb ich meinen Rücken durchdrückte. Ich hielt den Atem an. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich fühlte mich wie bei einer Anhörung und kam ins Schwitzen, jedoch erwiderte ich seinen Blick ruhig – in der Hoffnung, er würde meine Lüge nicht durchschauen. Als er schließlich bedachtsam nickte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Er glaubte mir.
»In Ordnung«, brummte er und ordnete ein paar Blätter.
Dabei erhaschte ich einen Blick darauf und erkannte den Lageplan einer Landschaft. Einer Landschaft hier in der Nähe? Es sah nicht aus wie ein Stadtplan von London, die Gegend schien sich eher südlich oder östlich an einer Küste zu befinden. Ehe ich ihn genauer ansehen konnte, hatte mein Vater die Unterlagen bereits geordnet in einem Fach seines Schreibtisches verstaut. Er sah auf. »Du kannst gehen, mein Junge. Wenn ich eine neue Aufgabe für dich habe, werde ich dich rufen lassen. Ich wünsche dir noch eine gute Nacht.«
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Daughter of Shades (Die Geschichte von Kyron und Salina)
Fantasy✨Eine undenkbare Liebe zwischen Licht und Dunkelheit ... ✨ Salina ist ein Schattenmädchen und beherrscht die Magie des Wassers. Als Tochter des Anführers ist ihr Leben strengen Regeln unterworfen. Grenzen, gegen die sie um jeden Preis rebellieren wi...