Kapitel 4

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Kapitel 4

Salina

Ich stand am Rande der Kliffküste Seven Sisters in der Nähe des Bergwerks. Sie befand sich im Süden Englands zwischen Eastbourne und Seaford, etwa zwei Stunden Autofahrt von London entfernt.

Früher waren oft Touristen hierhergekommen, um die schöne Aussicht auf das klare, türkisblaue Meer zu genießen oder die Felsen zu bestaunen, die in der Sonne schneeweiß aussahen. Viele waren am Steinstrand spazieren gegangen, der sich entlang der Felsen befand.

Da allerdings Erosionsgefahr bestand und der Strand bei Flut komplett überschwemmt wurde, war das Gebiet gesperrt worden.

So hatte ich meinen ganz eigenen Rückzugsort. Einen Ort, an dem ich nur für mich war und mich frei fühlen konnte. Fernab der Finsternis im Bergwerk.

Um mich herum war nichts außer der grüne Wiesenboden. Hin und wieder gab es ein paar Bäume oder Sträucher. Es dauerte eine Weile, bis man zum Wald gelangte, wo sich das alte Bergwerk befand. Es war eiskalt. Wind rauschte in meinen Ohren und peitschte mir mein Haar mitten ins Gesicht. Er zerrte an meiner Kleidung.

Vor mir war das weite Meer. Am Horizont ging die Sonne gerade auf. Ihre ersten goldenen Strahlen spiegelten sich auf der glitzernden Wasseroberfläche. Die langsam verschwindende Dunkelheit ummantelte mich wie eine Decke. Ich musste mich beeilen. Ich schloss die Augen und breitete die Arme aus. Dann ließ ich mich fallen. Stürzte in die Tiefe.

Der Wind peitschte mir noch schärfer ins Gesicht, raubte mir die Luft zum Atmen. Ich genoss das Gefühl des freien Falls. Noch bevor ich unten aufschlagen konnte, verschmolz ich mit der Dunkelheit und schoss wieder nach oben. Es war wie fliegen, nur dass ich die Aussicht nicht genießen konnte, weil ich so schnell war. Ich raste hinweg über Bäume, Dörfer und kleinere Städte, bis ich London erreichte, wo ich ungesehen zwischen Bäumen Gestalt annahm.

Ich war stocksauer gewesen. Auf Dad, weil er mich noch mehr einengte, als ich es aufgrund der Wohnverhältnisse sowieso schon war. Er hatte mich die ganze Nacht bewachen lassen. Wie eine Gefangene. Während der zuständige Wächter am frühen Morgen vor der Toilette gewartet hatte, war ich durch einen Geheimgang geflüchtet. Als das Bergwerk noch nicht stillgelegt worden war, hatte man diese Gänge im Falle einer Verschüttung gebaut, um durch sie wieder ans Tageslicht zu gelangen.

Da ich Angst hatte, im Einkaufszentrum wieder auf Lichtwesen zu stoßen – auf eine weitere Begegnung mit diesem arroganten Lichtjungen konnte ich gut verzichten – schlenderte ich eine Weile in der Stadt umher, bis ich mich am frühen Nachmittag auf den Weg zum Hyde Park machte. Zur Winterzeit fand dort eine weihnachtliche Veranstaltung statt. Früher hatte es wegen der Fahrgeschäfte, dem Riesenrad und den Liveshows an einen Rummel erinnert. Heute gab es dort nur noch eine Eislaufbahn mit Livemusik und Weihnachtsständen, wo Essen oder Dekoartikel verkauft wurden. Seit Mums Tod kam ich jedes Jahr hierher. Unter den vielen Menschen war die Wahrscheinlichkeit geringer, von Lichtwesen entdeckt zu werden. Ich mochte das weihnachtliche Treiben. Jedes Mal stellte ich mir vor, ich wäre ein ganz normales Teenagermädchen.

Es dämmerte bereits, als ich an den Weihnachtsbuden vorbeispazierte. Der Geruch von Hühnchen und Fisch drang mir in die Nase. Es gab mehrere Feuerstellen, um die Menschen herumstanden, Marshmallows in den Flammen rösteten und sich lachend unterhielten. In den behandschuhten Händen hielten sie dampfende Tassen voller Glühwein oder heißer Schokolade. Mein Magen knurrte. Allerdings konnte ich mir nichts kaufen, weshalb ich mich schnell abwandte, ehe ich noch deprimiert wurde.

Ich blieb schließlich vor der Eisbahn stehen. In der Mitte gab es einen viktorianischen Pavillon, in dem eine Band weihnachtliche Musik spielte. Vom Dach des Pavillons aus zogen sich Lichterketten bis zum Rand der Eisbahn. Sehnsüchtig beobachtete ich die Menschen, die in warme Mäntel und Schals gehüllt über die glitzernde Fläche fuhren. Immer wieder stürzte jemand, aber sie lachten. So ausgelassen, wie ich mich gern gefühlt hätte.

Daughter of Shades (Die Geschichte von Kyron und Salina)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt