Auch zwei Wochen nach dem Tod meines Opas bin ich kaum ansprechbar. Philipp ist nach wie vor die meiste Zeit bei mir, aber vormittags geht er zur Schule. An Schule kann ich selber überhaupt nicht denken. Ich sehe den ganzen Tag meinen Opa, wie er tot neben dem Tisch liegt. Doktor Ackermann kommt immer noch jeden Tag vorbei und sieht nach, wie es mir geht.
Wie geht es mir? Wie soll es mir gehen? Ich fühle nichts außer Traurigkeit.
„Lisa, heute ist sehr schönes Wetter und es ist warm. Ich möchte, dass du nachher mit Philipp nach draußen gehst. Mir reicht es, wenn du dich in den Garten setzt, aber du musst raus." kommt es von Doktor Ackermann, ich nicke. Es ist mir egal, ob ich draußen sitze oder im Bett liege, die Bilder sind die gleichen.
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Wieder zwei Wochen später und nichts ändert sich.
Nicole und Philipp sitzen abwechselnd bei mir, aber die Bilder bleiben.
Gerade ist Philipp hier und Doktor Ackermann redet auf mich ein.
„Lisa, wenn du nicht langsam anfängst mehr zu essen, muss ich dich in die Klinik bringen lassen", ich nicke.
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Jeder Tag und jede Woche bleibt gleich.
Meine Eltern haben mich in Absprache mit Doktor Ackermann einige Wochen später in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen. So sehr ich sie dafür damals auch gehasst habe, es war meine Rettung. Ich habe Monate gebraucht, bis ich wieder am Leben teilnehmen konnte. Unzählige Therapiestunden hat es gedauert, bis ich mich öffnen konnte. Ein Mädchen in der Therapie hat mir dabei sehr geholfen. Als sie sich das Leben genommen hat, hat meins wieder begonnen. Ich war tief in meinem Loch, aber ihr Freitod hat mir gezeigt, dass ich leben wollte.
Ich habe angefangen, das Erlebte aufzuarbeiten und dann begonnen es zu verarbeiten. Ein Schritt und erst wenn der sich sicher anfühlt, der nächste. Langsam in meinem Tempo. Der Verlust meines Großvaters hat mich geprägt, keine Frage. Aber ihn sterben zu sehen, hat mich verändert. Was meine Eltern in der Zeit getan und nicht getan haben, werde ich niemals verstehen oder verzeihen können. Sie wollte immer das beste für mich, dass weiß ich heute. Damals haben sie mich übergangen und das kann niemand mehr rückgängig machen. Mein Opa wurde zwei Wochen nach seinem Tod beigesetzt, ohne mich. Mich hat niemand gefragt, ich konnte mich nicht verabschieden.
Auch nach der Therapie bin ich nicht wieder in mein Heimatdorf zurückgekehrt. Das war keine Option und wird es auch nie sein.
Meine Freunde und auch Philipp habe ich danach nie mehr gesehen und hatte auch keinen Kontakt mehr zu ihnen. Meine Eltern kamen zu Besuch in die Klinik, aber da gab es schon kein zurück mehr in meine Heimat. Ob sie mir fehlen? Nicole fehlt mir und Philipp fehlt mir immer noch jeden Tag. Aber ich kann nicht zurück und ich habe auch nicht die Kraft, Kontakt aufzunehmen. Und Philipp und ich hatten eigentlich auch keine Zeit als Paar, da muss ich realistisch sein. Er wird sicher eine tolle Freundin gefunden haben, die ihm guttut. Ich werde ihn immer im Herzen behalten und ich weiß auch, wie sehr er mich unterstützt hat.
Freunde habe ich in der Therapie keine gefunden. Das wollte ich auch nicht, ich musste mich auf mich konzentrieren. Darauf, selbst wieder gesund zu werden. Nach über einem Jahr bin ich nach München gegangen und habe dort mein Abitur fertig gemacht. Gewohnt habe ich etwas ausserhalb auf einem Reiterhof. Pferde waren meine neue Heimat, mein Zufluchtsort. Viele Dinge, die ich früher gemacht habe, konnte ich nicht mehr.
Ich bin immer sportlich gewesen, nach meiner Krankheit konnte ich nichts mehr. Mein Körper war unfähig, Basketball zu spielen oder auch Schwimmen musste ich neu erlernen. Reiten konnte ich vorher nicht, das habe ich erst in München gelernt. Und habe ich früher jeden Fettnapf mitgenommen, so war ich in meinem neuen Leben tollpatschig.
Mein größter Halt während des Abiturs und in der ersten Zeit war Ella. Ella, diese lebenslustige Frau, die mich nicht eine Minute zurück in mein Loch gelassen hat. Sie hat mir eine Routine gezeigt, die wenig Platz für anderes hatten. Die Pferde waren wichtig und es gab keine Ausrede. Dadurch konnte ich mich nach erstaunlich kurzer Zeit wieder auf mein Leben fokussieren und meine Zukunft planen.
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Was ich nicht mehr ändern konnte?
Schlagsahne ist seit dem Tag meines 17. Geburtstages mein Trigger. Sobald ich geschlagene Sahne sehe, schaltet mein Kopf auf Notbetrieb. Dann kann ich nicht einmal mehr vernünftig sprechen. Innerhalb weniger Augenblicke bekomme ich migräneartige Kopfschmerzen, manchmal muss ich mich sogar übergeben.
Aber auch damit habe ich gelernt zu leben. Und ich kämpfe mich jeden Tag weiter vor in Richtung Normalität.
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Schicksalsschlag-Sahne
Historia CortaWas ist in Lisas Vergangenheit geschehen? Warum hat es sie nach Australien, ans andere Ende der Welt, verschlagen? Lisas Leben hat sich am Tag ihres 17. Geburtstages vollkommen verändert. Von einer Sekunde auf die andere ist alles anders und es gibt...