Heute ist Sonntag und ich trete gerade meine neunte Schicht hintereinander an. Das Abi habe ich geschmissen, zu meinen Eltern habe ich keinen Kontakt mehr und Freunde habe ich auch nicht wirklich. Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt noch am Leben bin. Tagsüber schlafe ich und abends arbeite ich. Ich bin die größte Enttäuschung, die meine Eltern sich vorstellen können. Ihr Sohn, der gerade mal achtzehn Jahre alt ist, hat jegliche Perspektive im Leben verloren und den Sinn des Lebens hat er nie gefunden. Das Unglück fing an, als ich entdeckt habe, dass ich schwul bin. Das war schon relativ früh, damals war ich gerade mal zehn Jahre alt und ich wusste nicht, was das bedeutet, aber ich habe gern die Kleider meiner Mutter angezogen. Als mein toller Stiefvater das entdeckt hat, hat er mich verprügelt und mir danach zum ersten Mal gesagt, dass ich eine Enttäuschung bin. Meine Mutter stand in der Tür und hat geweint, ich weiß bis heute nicht warum. Entweder, weil ich wirklich so eine Enttäuschung bin, oder weil sie es nicht ausgehalten hat, dass ihr Mann ihren Sohn verprügelt. Wobei ich mir die zweite Variante nicht wirklich vorstellen kann. Ab diesem Moment ging es eigentlich nur bergab. Ich kam zwar auf das Gymnasium, aber ich konnte nie mit den anderen mithalten. Ich hatte nicht die gleichen coolen Klamotten, ich war nicht so gut in der Schule und meine Eltern waren nicht so reich, wie die Eltern der anderen. Mein Leben ist scheiße und ich bin es auch. Ich habe niemanden, aber das wundert mich auch nicht wirklich besonders. Wer sollte mich schon wollen? Ich bin nichts wert, mein Leben ist vorbei, bevor es überhaupt richtig angefangen hat. Heutzutage würde man wohl sagen, dass ich lost bin. Lost - verloren. Verloren in diesem scheiß System, dieser scheiß Gesellschaft und ihren Erwartungen an junge Leute. Mit sechzehn soll man schon wissen, was man den Rest seines Lebens machen will. Ich weiß es eben nicht und eigentlich hatte ich gedacht, dass es auch gar nicht so schlimm ist, aber offenbar scheint es wohl der Anfang vom Ende zu sein, wenn man etwas länger darüber nachdenkt, in welche Richtung das eigene Leben führen soll. Die Narben auf meinem Körper stammen von mir, aber die Narben auf meiner Seele stammen von anderen.
Da sitzt sie, sie ist jeden Abend hier und sie trinkt immer das Gleiche, Cosmopolitan. Sie ist ungefähr fünfundachtzig Jahre alt und hat einen amerikanischen Akzent. "Junger Mann, würden Sie mir bitte noch einen Cosmopolitan bringen?", fragt sie lächelnd und ich nehme ihre Bestellung auf. Wie jeden Abend überreicht sie mir ein riesiges Trinkgeld. Ich weiß, dass sie nur nett sein möchte, aber ich kann damit absolut nichts anfangen, denn Geld macht nicht glücklich. Sobald ich weg bin, schaut sie aus dem Fenster, als wäre dort irgendetwas, was sie total in den Bann zieht. Ich habe noch nie aus diesem Fenster geschaut, aber ich weiß, dass es ungefähr auf der Höhe des alten Friedhofes ist. Meiner Meinung nach war es auch nicht die beste Entscheidung, eine Bar in der Nähe von einem Friedhof zu eröffnen. Was fesselt sie so sehr? Liegen auf diesem Friedhof Verwandte von ihr? Vielleicht ist sie auch schwer krank und hat Angst, dass sie selbst bald stirbt. Ich mache mir normalerweise keine Gedanken um andere Menschen, aber das Schicksal der Frau interessiert mich und meine Gedanken kreisen nur noch um sie. Ich nehme mir vor, sie darauf anzusprechen, aber als ich sie das nächste Mal sehe, traue ich mich nicht. Sie schaut gedankenverloren aus dem Fenster und ich beobachte sie aus sicherer Entfernung. Ich würde alles dafür tun, um zu erfahren, was in ihrem Kopf vor sich geht, was sie erlebt hat. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur zu neugierig.
Ein paar Tage später beschäftige ich mich immer noch mit der Frage, was mit der älteren Dame los ist. Als ich mich endlich traue, sie anzusprechen, lächelt sie mich an. "Mein Name war Esther Sternberg, aber in Auschwitz war ich nur noch die Nummer 11753. Als wir festgenommen wurden, war ich zwölf Jahre alt. Eigentlich hätte ich gar nicht überleben dürfen, die Nazis haben alle Kinder nach unserer Ankunft erschossen. Eine ältere Dame hat mich für ihre zwanzigjährige Tochter ausgegeben. Die Tochter ist auf dem Weg gestorben. Die Mutter kannte mich nicht, sie kam aus Hamburg und meine Familie aus Berlin. Meine Großeltern verstarben noch im Zug, mein Vater wurde bei unserer Ankunft erschossen. Das war vermutlich besser so, denn er war sehr schwach. Meine Mutter starb neun Monate später an einer Lungenentzündung, offiziell war ich auch auf der Fahrt nach Auschwitz gestorben. Nachdem wir befreit wurden, ich war gerade siebzehn Jahre alt, nahm mich ein Soldat mit nach Amerika. Wir haben geheiratet und waren glücklich, dann kam der Korea Krieg. Mein Mann ist 1952 gefallen. Ich hatte keinen Grund mehr, in den USA zu bleiben, deswegen bin ich wieder zurück nach Berlin gezogen.", erklärt mir die Frau und ich erkenne den Schmerz in ihren Augen. "Das ist ein sehr schlimmes Schicksal, es tut mir so wahnsinnig leid.", entgegne ich mit brüchiger Stimme. "Junger Mann, Sie müssen das nicht sagen. Das ändert auch nichts. Da hinten stand übrigens unser Haus, jetzt ist dort ein Friedhof. Irgendwie ironisch, nicht?", fragt sie und zeigt aus dem Fenster. Mir fehlen die Worte, aber Esther redet weiter. "Ich habe bemerkt, dass Sie etwas bedrückt. Ich habe seit der Befreiung nicht über meine Vergangenheit gesprochen, jetzt bin ich sehr alt und möchte meine Erfahrungen teilen. Lassen Sie sich bitte niemals einreden, dass Sie nicht gut genug sind. Außerdem ist es nicht gut, in der Vergangenheit zu leben und dabei das Leben in der Gegenwart zu verpassen.", bemerkt die ältere Dame.
In den folgenden Tagen sehe ich sie nicht in der Bar. Ich mache mir Sorgen. Ungefähr eine Woche nach unserem Gespräch erfahre ich, dass sie gestorben ist. Für mich bricht eine Welt zusammen. Ein paar Tage später findet die Beerdigung von Esther statt. Der Pfarrer hat absolut keine Ahnung von ihrem Leben und weiß nicht einmal, dass sie ursprünglich aus Deutschland kommt. In der Trauerrede erwähnt er, dass sie 1953 aus den USA nach Deutschland ausgewandert ist und dass sie am liebsten gestrickt hat. Ich möchte aufspringen und ihre Geschichte erzählen, aber ich weiß nicht, ob Esther das gewollt hätte. Ab diesem Tag ändere ich mein gesamtes Leben. Den Job in der Bar kündige ich, außerdem hole ich meinen Abschluss nach. Ein Jahr später studiere ich Jura und habe einen Freund, den ich sehr liebe. Mit meiner Familie habe ich bis heute keinen Kontakt, aber das stört mich nicht. Meine Familie gehört jetzt meiner Vergangenheit an und manche Dinge sollte man einfach ruhen lassen. Ohne Esther hätte ich das alles nicht geschafft. Manchmal fühlt es sich so an, als würde sie auch heute noch auf mich aufpassen.
Kein Vergessen. In Erinnerung an alle Opfer des Holocaust.
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Sieben Blickwinkel
Teen Fiction»Kein Mensch tritt ohne Grund in dein Leben. Der eine ist ein Geschenk, der andere ist eine Lektion.« Sieben Personen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch verbindet sie eines. Sie suchen den Sinn ihres Lebens. Die einen haben ihn verlo...