In meinem Kopf ein Universum

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"Es ist fünf Uhr, Aufschluss!", ertönt eine Stimme aus dem Lautsprecher. "Guten Morgen, meine Süße.", flüstert mir meine Freundin Ronja zu. Ich drehe mich genervt um, da ich noch zehn Minuten zum Schlafen habe. "Wie kann man nur so verpennt sein?", fragt Ronja, die jetzt ebenfalls genervt ist. Ich lasse das Frühstück ausfallen und schlafe noch ein bisschen. Heute ist kein guter Tag, denn der Geburtstag meiner kleinen Schwester Michelle rückt immer näher. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich damals war, als ich meine kleine Schwester zum ersten Mal gesehen habe. Ganz vorsichtig habe ich ihren Kopf gestreichelt. Jetzt wird sie schon sechzehn und ich habe sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Ich schreibe ihr Briefe, aber ich bekomme nie eine Antwort. Bei der Arbeit in der Wäscherei bin ich ziemlich durcheinander. "Maya, schläfst du jetzt schon mit offenen Augen?", fragt Rike, die auch auf unserer Station ist. Ihr Sohn Ben wurde von einem betrunkenen Autofahrer überfahren. Er bekam Bewährung, Rike ist durchgedreht und hat ihn nach dem Prozess erstochen. Ich kann das verstehen, aber das Gericht hat sie zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie ist seit acht Jahren hier und hat mir am Anfang sehr geholfen, mich im Gefängnis zurechtzufinden. "Unsere Prinzessin ist heute sehr müde. Sie hat nicht genug geschlafen.", erklärt meine Freundin und lacht. "Leck mich doch.", entgegne ich genervt. "Aber nicht während der Arbeitszeit!", ruft Rike und lacht. Ich verziehe mich in unserer Wäschelager und weine. "Hast du immer noch keine Antwort bekommen?", fragt Rike, die genau weiß, wie es mir geht. Ich zucke mit den Schultern und sie umarmt mich.

Wer weiß, vielleicht will Michelle gar keinen Kontakt mit mir haben. Der Prozess muss sehr anstrengend für sie gewesen sein, immerhin war sie erst zwölf Jahre alt. Michelle mochte unseren Onkel, weil sie nicht wusste, wie er wirklich war. Er mochte uns auch, aber die Art und Weise, wie er uns mochte, war vollkommen falsch. Als er mich zum ersten Mal angefasst hat, war ich vierzehn. Bei meinem ersten Termin beim Frauenarzt war er dabei, er wollte sicher sein, dass ich nichts erzähle und dass ich nicht schwanger bin. Ich habe alles über mich ergehen lassen, um meine kleine Schwester zu schützen. Eines Tages bin ich nach der Schule nach Hause gekommen und unser Onkel ist die ganze Zeit um Michelle geschlichen. Als ich abends aus der Dusche gekommen bin und mir noch etwas zu trinken holen wollte, kam er zu mir und wollte mich anfassen. "Lass das!", habe ich ihn angefaucht. "In Ordnung, ich habe ja auch noch deine Schwester, sie ist noch so jung und hübsch.", entgegnet er. Reflexartig griff ich zu einem Messer und habe ihm in die Brust gestochen. Es waren wohl siebenundzwanzig Mal, das haben sie zumindest im Gericht gesagt.

Am Wochenende besucht mich meine Mutter, zum ersten Mal seit dem Prozess. "Hallo Mama.", flüstere ich. "Hör bitte auf, deiner Schwester Briefe zu schreiben. Wir möchten das nicht.", erklärt sie. "Hat Michelle die Briefe gelesen?", frage ich. "Wir wollen nicht, dass du ihr schreibst.", entgegnet meine Mutter und schaut mich böse an. "Ihr habt ihr die Briefe gar nicht gegeben.", stelle ich fest. "Wir wollen nicht, dass Michelle Kontakt zu einer Mörderin hat.", erwidert sie. "Du weißt ganz genau, was dein Bruder getan hat. Ich habe Michelle beschützt!", rufe ich. "Deine ständigen Lügen gehen mir auf die Nerven. Du bist doch krank.", entgegnet meine Mutter. "Willst du mich eigentlich komplett verarschen? Dieser Typ hat mich missbraucht und du glaubst mir nicht. Ich hasse dich!", rufe ich wütend und springe auf. Sofort hält mich ein Beamter fest. "So, du kommst jetzt in den Bunker. Dort kannst du über dein Verhalten nachdenken.", bemerkt der Beamte und führt mich ab. "Lass mich los, ich kann alleine gehen!", rufe ich aufgebracht. Im Bunker schlage ich gegen die Wand, bis meine Hand blutet. "Maya, das war doch wieder einmal komplett unnötig.", bemerkt Alex, die meine Wunden versorgt. Sie hat früher als Krankenschwester gearbeitet, bevor sie hier gelandet ist. Jetzt arbeitet sie auf der Krankenstation. "Ich könnte diese dumme Kuh umbringen.", bemerke ich. "Sie ist deine Mutter, sag so etwas bitte nicht.", entgegnet Alex. Familie ist bei ihr ein ganz schwieriges Thema. Sie hatte nie eine Familie und idealisiert alle Familien, auch wenn sie total toxisch sind.

Am nächsten Morgen werde ich in das Büro der Anstaltsleitung gerufen. "Maya, gibt es einen besonderen Grund, warum Sie so ausgerastet sind?", fragt mich Herr Fischer. "Meine Mutter verbietet mir den Kontakt zu meiner Schwester.", antworte ich. "Wie alt ist Ihre Schwester denn? Ich glaube, wenn sie sechzehn Jahre alt ist und es keine gerichtliche Anordnung gibt, kann sie mit einem Sozialarbeiter oder einer Sozialarbeiterin sprechen und mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Vielleicht kann sie Sie auch bald besuchen.", erklärt er. "Übrigens habe ich auch eine Handynummer für Sie. Es ist die Nummer einer Freundin von Ihrer Schwester, da Ihre Eltern wohl das Handy von Michelle kontrollieren.", ergänzt der Anstaltsleiter. Als ich wieder auf der Station bin, rufe ich nervös die Nummer an. "Maya?", fragt meine Schwester mit zitternder Stimme. Ich fange sofort an zu weinen. Dann nehme ich mich zusammen und erzähle ihr von den Neuigkeiten. Meine Schwester verspricht mir, dass sie mich sobald es geht, besuchen wird. Ich bin überglücklich.

Als es dann endlich soweit ist und ich meine Schwester nach vier langen Jahren endlich wieder in die Arme schließen kann, bin ich unendlich glücklich. Jetzt weiß ich, dass sie sicher ist und dafür hat es sich gelohnt. In den nächsten zwei Jahren kommt Michelle alle zwei Wochen zu mir und an ihrem achtzehnten Geburtstag bekomme ich Freigang. Mein Prozess wurde neu verhandelt und da hat meine Schwester ausgesagt, was mein Onkel mit mir gemacht hat. Eigentlich hatte ich gedacht, dass sie gar nicht so viel mitbekommen hat, sie war doch noch so klein. Das Gericht glaubt uns und ich kann nach sechs Jahren Haft entlassen werden. Ich beginne die Ausbildung zur Tierpflegerin, ich liebe Tiere und die Arbeit macht mir total Spaß. Meine Freundin Ronja, die sechs Monate vor mir entlassen wurde, arbeitet wieder als Köchin. Wir ziehen in eine gemeinsame Wohnung und als Michelle ihr Abitur in der Tasche hat, zieht sie zu uns. Mit unseren Eltern hat sie keinen Kontakt mehr. Michelle studiert soziale Arbeit und arbeitet mit Kindern, die missbraucht wurden. Ich bin so stolz auf meine kleine Schwester, sie ist so unfassbar stark. "Ich will keine Familie gründen, ich will nicht auf unser geiles Leben verzichten.", stellt sie eines Tages fest. Zu diesem Zeitpunkt ist sie im zweiten Monat schwanger, ohne es zu wissen. Sie kann keine richtige Verbindung zu ihrem Sohn aufbauen, also kümmern Ronja und ich uns um Lukas. Wir adoptieren ihn sogar und wir könnten nicht glücklicher sein.

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