Lila Nächte

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Niemals hätte ich gedacht, dass meine Welt noch einmal aufhört, sich zu drehen. "Liebe Schüler, ich habe eine traurige Nachricht für euch. Eure Mitschülerin Brie aus der 10b hat sich am Wochenende das Leben genommen.", teilte uns der Schulleiter mit. Brie war meine beste Freundin, seit ich denken kann. Von ihren Eltern erfahre ich, dass sie Drogen genommen und sich dann erschossen hat. 'Wie Kurt Cobain', dachte ich. Kurt war ihr großes Vorbild und ich wusste, dass sie sich mit siebenundzwanzig umbringen wollte. Das ist ihr psychisch so schlecht ging, wusste ich nicht. Ich mache mir Vorwürfe, obwohl mir ihre Eltern versichern, dass ich nichts dafür kann. Die Beerdigung war fast so schlimm, wie die von meiner Oma. Damals war Brie bei mir und konnte mich trösten. Jetzt wird mir bewusst, dass ich nie wieder mit ihr lästern kann, dass wir uns nie wieder über nervige Menschen beschweren können und dass wir uns nie wieder die alten Platten von ihrem Papa anhören werden. Ich bekomme einen Nervenzusammenbruch und muss für ein Jahr lang in eine Psychiatrie.

Es ist der erste Tag in meiner neuen Schule, ich vermisse Brie. Wir sind in den Sommerferien umgezogen, meine Eltern wollten nicht, dass mich etwas in der Stadt an meine beste Freundin erinnert, deshalb sind wir in eine neue Stadt gezogen. Ich fühle mich ziemlich einsam und verloren. Zu Hause habe ich nachgezählt es sind noch 1095 Tage, bis ich diese dämliche Schule verlassen kann und mein Leben endlich anfängt. "Wie schön, ein neues Gesicht. Möchtest du dich kurz vorstellen?", fragt die Lehrerin. Ich schüttele den Kopf und sie stellt mich der Klasse vor. In Englisch bin ich ganz gut, die Antworten der Lehrerin beantworte ich auf Papier, aber ich melde mich nicht. Nach einigen Tagen versteht die Lehrerin, wie ich ticke und blitzschnell lande ich in der Theater-AG, die nur Stücke auf Englisch aufführt. Anfangs habe ich gar keine Lust darauf, aber meine Eltern wollen mich auch nicht abmelden. "Du bist doch super in Englisch und soziale Kontakte würden dir auch nicht schaden.", erklärt mein Vater beim Abendessen. Wohl oder übel muss ich also in die AG, aber ich werde garantiert kein Stück spielen. "Wenn du nichts spielen willst, möchtest du dann ein Stück für uns schreiben?", fragt meine Englischlehrerin, die auch die AG leitet. Ich zucke mit den Schultern, aber insgeheim freue ich mich schon ein bisschen. Zu Hause setze ich mich direkt an meinen Computer, ich habe tausend Ideen. Heute ist ein gelber Tag, das hätte Brie jetzt gesagt. Gelbe Tage sind gute Tage und lila Nächte sind gute Nächte.

"Nele, warum liest du uns dein Stück nicht vor?", fragt meine Lehrerin eine Woche später. Ich weiß, dass sie mich motivieren will, aber ich habe Angst, mein Stück vorzulesen. Tara, die auch in meiner Klasse und der Theater-AG ist, liest meinen Text vor. Die Lehrerin ist begeistert. "Du schreibst fantastisch, fast so gut wie ein Muttersprachler. Warum bist du so gut in Englisch?", fragt sie. Ich zucke wieder mit den Schultern. Brie und ich waren die Besten in Englisch. Es hat damit angefangen, dass wir die Texte von Kurt Cobain übersetzt haben, wir waren riesige Fans von Nirvana. Seit meine beste Freundin gestorben ist, kann ich die Songs nicht mehr hören, es tut zu sehr weh. "Dein Text war richtig gut, du bist total kreativ und der Text war mega deep. Wenn du willst, kannst du morgen in der Pause mit uns abhängen.", erklärt Tara und ich freue mich ein bisschen. Die Freunde von Tara sind ziemlich cool, ein bisschen erinnern sie mich an meine beste Freundin.

Auf einer Party von Tara und ihrem Pflegebruder Matt, esse ich versehentlich Brownies mit grünem Zusatz. "Meine beste Freundin Brie hat sich vor eineinhalb Jahren das Leben genommen. Ich hätte mir gewünscht, dass sie mit mir geredet hätte oder mir vielleicht einen Abschiedsbrief hinterlassen hätte.", erzähle ich, während mich die anderen beobachten. "Du hast noch nie Gras geraucht oder Haschbrownies gegessen, oder?", fragt Sue, eine Freundin von Tara und ich schüttele den Kopf. "Sandwich, ich habe Lust auf ein Sandwich.", bemerke ich. Matt nimmt mich mit in die Küche. "Ich wusste, dass sie sich irgendwann umbringt, aber ich dachte, wir hätten noch ein bisschen Zeit zusammen.", bemerke ich und Matt sieht mich besorgt an. "Ich denke, jeder von uns durchlebt irgendwann seine persönliche Hölle. Die Hauptsache ist, dass du nicht aufgibst.", erklärt er und umarmt mich. Ich bin ziemlich überrascht, denn niemand außer Brie hat mich berührt oder in den Arm genommen. Nicht einmal bei meinen Eltern habe ich es zugelassen. "Sandwich.", flüstere ich in sein Ohr und er bricht in schallendes Gelächter aus.

Als ich wieder halbwegs nüchtern bin, erfahre ich, warum Matt schon so erwachsen ist. Er wurde als Kind sehr vernachlässigt. Seine Eltern haben ihn die ersten sechs Jahre fast vollständig ignoriert, seine ältere Schwester hat sich um ihn gekümmert. Sie starb bei einem Autounfall, als Matt sieben Jahre alt war. Seine Eltern waren drogenabhängig und hatten dauernd Besuch von ihren Freunden, auch über mehrere Wochen. Einer der Freunde hat Matt missbraucht, aber niemand hat ihm geglaubt. Er war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Erst als er mit blauen Flecken übersät in die Schule kam, wurde etwas unternommen. Matt kam in verschiedene Wohnheime und galt als verhaltensauffällig, weil er schwul ist. Mit fünfzehn kam er dann zu der Familie von Tara und seitdem läuft es für ihn viel besser. Ich erzähle Matt auch von meinen Dämonen. Er versteht mich, wie es sonst nur meine beste Freundin getan hatte. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er ein Stück von ihr in sich trägt.

Die Begegnung in der Küche hat mein Leben verändert, obwohl ich vermutlich higher war, als das Empire State Building. Matt und ich werden beste Freunde. Ich bezeichne ihn zwar zuerst nicht so, aber insgeheim wissen wir beide, dass es so ist. Ich will es mir am Anfang nur nicht eingestehen, weil ich Brie gegenüber ein schlechtes Gewissen habe. Matt versteht das und wir gehen oft zum Grab meiner besten Freundin und wir reden mit ihr. Wir erzählen ihr alles, was in unserem Leben passiert. Ich erzähle Brie, dass Matt jetzt endlich seinen Führerschein hat und dass wir jeden Abend eine Runde fahren und Musik aus den achtzigern hören. Matt erzählt, dass ich in einen Austauschschüler aus England verliebt bin. Dafür erntet er einen bösen Blick. "Brie, das hättest du sehen müssen!", ruft mein bester Freund lachend. Auch Jahre später, als ich schon längst verheiratet bin und zwei Kinder habe, besuche ich meine beste Freundin immer noch einmal in der Woche. "Stell dir vor, Brie ist jetzt schon in der ersten Klasse. Die Kinder werden so verdammt schnell groß.", bemerke ich und schaue auf den Grabstein. Wir haben unsere ältere Tochter nach meiner besten Freundin benannt und vor ein paar Wochen habe ich ihr erklärt, warum sie diesen Namen trägt. Seitdem ist sie total stolz auf ihren Namen. Ich vermisse meine beste Freundin, aber ich bin auch sehr glücklich mit meiner Familie.

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