Leni und Lilli

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Er sieht nichts, alles ist schwarz, er hört nur die Bomben. Ein paar Sekunden später sieht der Leichen durch die Luft fliegen, das waren seine Kameraden. Plötzlich bemerkt er, dass ihm sämtliche Gliedmaßen fehlen. "Rudi, wach bitte auf, es ist nur ein Traum!", rufe ich besorgt. Mein großer Bruder wacht schweißgebadet auf. "Verdammt.", flüstert er und öffnet eine braune Ampulle. "Muss das unbedingt sein?", frage ich. Er würdigt mich keines Blickes und schluckt die Flüssigkeit, ohne eine Miene zu verziehen. "Rudolf Albrecht, es ist Zeit zum aufstehen!", ruft unser Vater bestimmt. Mein Bruder schleppt sich müde aus dem Bett. "Du kannst dich noch etwas hinlegen, mein Schatz. Deine Mutter hat heute einiges mit dir vor.", erklärt unser Vater lächelnd. "Kann ich nicht mit dir kommen?", frage ich genervt. "Keine Diskussion, Liliane, deine Mutter möchte dich einigen jungen Herren vorstellen.", erklärt er. Ich will das nicht, ich mag keine Männer und ich möchte nicht heiraten. Meine Mutter hat sich allerdings in den Kopf gesetzt, dass ich unbedingt heiraten muss. Ich hatte auch noch nie einen Freund, ich mag Frauen. Mein Bruder mag Männer, aber unsere Eltern dürfen auf keinen Fall davon erfahren, für unseren Vater wären wir dann wahrscheinlich gestorben, er würde uns vermutlich enterben und unsere Mutter wäre am Boden zerstört.

"Das ist Friedrich, er wird bald das Geschäft seines Vaters übernehmen. Seine Familie besitzt ein Schuhgeschäft, wir könnten unsere Geschäfte dann zusammenlegen.", erklärt meine Mutter. "Es gibt bestimmt eine Menge Mädchen, die ihn liebend gerne zum Mann nehmen würden. Ich gehöre aber nicht dazu.", entgegne ich genervt. "Liliane Maria, so habe ich dich nicht erzogen!", ermahnt sie mich. Als Friedrich weg ist, schimpft sie weiter mit mir. "Was soll ich nur mit euch Kindern machen? Rudolf wurde im Krieg verwundet, so nimmt ihn doch keine Frau. Das einzige, was ihn jetzt noch attraktiv macht, ist die Tatsache, dass er Vaters Uhrengeschäft erben wird. Und du, Liliane? Du hast Großmutters Sommersprossen und diese schrecklichen roten Haare geerbt. Wie sollte ich da ein Mann begehren?", fragt sie und trägt sich eine grüne Pampe in ihr Gesicht auf. Rosalie, unser Hausmädchen, kommt vom Einkaufen zurück und überreicht mir mit einem mitfühlenden Blick blonde Haarfarbe und Puder. "Denkst du auch, dass das wirklich nötig ist?", frage ich sie. Rosalie schüttelt den Kopf. "Frauen achten auf den Charakter, aber Männer sind total oberflächlich. Sie würden es sogar mit einer Schlange tun, wenn sie blond wäre und Puder tragen würde.", erklärt sie mir. Ich mag Rosalie sehr gerne. Meine Mutter bezeichnet sie als alte Jungfer, aber sie weiß nicht, dass unser Hausmädchen schon dreimal auf dem Titelblatt einer lesbischen Zeitschrift war. Rosalie versorgt mich regelmäßig mit den Zeitschriften. Sie ist wahnsinnig hübsch, eine Zeit lang habe ich sie begehrt, aber das würde natürlich nicht funktionieren. Rosalie hat mich aber schon einmal zu einem Redaktionstreffen mitgenommen.

Da ich ohnehin nicht bei meinem Vater im Uhrengeschäft arbeiten darf, fahre ich in die Stadt. Damit ich keinen Unsinn anstellen kann, beauftragt meine Mutter Rosalie, mich zu begleiten. Wir schlendern durch die Geschäfte und zum Schluss betreten wir eine Apotheke. "Bitte, meine Mutter hat Schmerzen. Mein Vater hat Sie immer unterstützt. Bitte helfen Sie mir.", fleht ein hübsches blondes Mädchen. "Ich kann Ihnen leider keine Schmerzmittel geben, wenn sie mir kein Geld dafür geben können, Fräulein Goldstein. Es tut mir leid.", entgegnet der junge Apotheker. "Wie viel kostet das Schmerzmittel?", frage ich ihn. "Fünf Reichsmark.", antwortet der Mann, der nicht viel älter zu sein scheint, als ich. Ich gebe ihm das Geld und er gibt dem Mädchen das Schmerzmittel. Sie bedankt sich und verschwindet schnell. Rosalie kauft für meinen großen Bruder drei Ampullen von dieser komischen Flüssigkeit. Als ich frage, was das ist, schüttelt sie den Kopf. Dass ihm das auch gegen seine Schmerzen hilft, ist mir schon klar, aber ich würde gerne wissen, was es genau ist, denn so viel, wie er davon nimmt, das kann nicht gesund sein. "Warum willst du mir nicht sagen, was das ist?", frage ich unser Hausmädchen. "Darüber reden wir nicht. Deine Eltern wissen nichts davon und du solltest dich auch nicht darum kümmern. Es hat mit dem Krieg zu tun, das verstehst du nicht.", entgegnet Rosalie ungewohnt kühl. Damit ist die Diskussion wohl beendet.

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