Die absurde Verwandlung

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Ich sitze gerade in meinem Zimmer an meinem Schreibtisch. Eigentlich sollte ich Hausaufgaben machen, und Papier, Stifte und Notizzettel aus dem Unterricht häufen sich auf der durchsichtigen Tischplatte. Doch ich kann mich nicht konzentrieren, da sich meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes fokussiert: Eine kleine Eulenfigur aus Porzellan, die neben meinen langweiligen Schulbüchern steht, fesselt meinen Blick.

Ihre Flügel sind silbern und spiegeln die Umgebung. Der Rest ihres faszinierenden Federkleids ist cremefarben. Die wärmenden Lichtstrahlen der Nachmittagssonne treffen auf die glänzende Figur und sie glitzert perlmuttfarben, als die Lichtpartikel auf ihrem grazilen Körper brechen. Ihr Blick ist in meine Richtung gewandt und ich habe das Gefühl, dass die Zeit stehen bleibt, als mein Blick den ihren kreuzt. Ihre kreisrunden Augen, welche über dem filigranen Schnabel liegen, funkeln geheimnisvoll und die faszinierenden Sprenkel darin ziehen mich in ihren Bann.

Plötzlich kommt mir die Figur lebhaft vor, schon fast wie ein echtes Tier, und ich versuche verwirrt meinen Blick abzuwenden. Aber als ich meinen Kopf drehen möchte, kann ich mich keinen Millimeter mehr bewegen. Als die kleinen ebenfalls silbernen Krallen der Eulenfigur damit beginnen sich zu bewegen und dabei winzige Risse in die Glasoberfläche des Tischs kratzen, schrecke ich auf. Meine Pupillen sind weiten sich vor Angst und ich spüre, wie Adrenalin durch meinen Körper schießt.

Ich beobachte erschrocken das Spektakel vor mir, meine Gedanken rasen und mein Blickfeld verschwimmt. An meinen Handgelenken treten Adern aus meiner blassen Haut hervor als ich panisch versuche, mich am Schreibtischstuhl festzuhalten. Die durcheinander wirbelnden Gedankenfetzen ziehen mich in eine endlose Tiefe. Ich will schreien, aber kein Laut verlässt meine staubtrockene Kehle. Sprachlos beobachte ich, wie sich langsam der Farblack der Figur löst. Wie in Zeitlupe bilden sie kleine Risse, die nach und nach zu großen Kratern und Schluchten werden. Die Figur gleicht einer Mondlandschaft, und in hunderttausend Teilen bröselt der immer noch glitzernde Lack über meine Hausaufgaben.

Meine Gefühle fahren Achterbahn, ich bin wie eingefroren, und schaue verblüfft dabei zu, wie die Eule, deren schneeweiße Federn nun hervorblitzen, langsam die kleinen Flügel ausbreitet und Schwung holt. Als sie elegant über meinen Kopf gleitet, spüre ich einen leichten Windstoß und ducke mich instinktiv.

Mittlerweile leuchtet der Himmel in allen möglichen Rot- und Orangetönen, und die untergehende Sonne am Horizont färbt die weißen Wände meines Zimmers feuerrot. Während das zierliche Tier einige Runden in meinem Zimmer fliegt, fühlt es sich so an, als ob jemand mein Herz zusammendrückt. Ich bekomme schlecht Luft und bin wie in einem spürbar kleinen Käfig gefangen. Nun begreife ich langsam, wie sich diese wundervolle Schneeeule, gefangen in einer Porzellanstatue, auf meinem Schreibtisch fühlte.

Schnell stehe ich auf, ziehe die zum Teil geschlossenen Gardinen beiseite, und öffne mein riesiges Zimmerfenster. Die Eule fliegt märchenhaft in den bunten Himmel hinein und als sie mit den kräftigen Farben des Himmels verschmilzt, zerbricht der unsichtbare Käfig um mein Herz in seine Einzelteile. Der Anblick der vollkommenen Freiheit benebelt mich, und als die Schneeeule einen letzten Dankesruf ausstößt, verschwindet die eiserne Dunkelheit, die mich wie ein reißender Wasserstrudel einschließt, komplett. Leichte Windböen lassen meine Haare fliegen und ich höre, wie sich ein spazierengehendes Pärchen unterhält.

Ein Hund in der Nachbarschaft bellt, aber ich merke es nicht. Mir wird warm. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding, und ich bin mir sicher, dass ich das Gleichgewicht verlieren würde, wenn ich auch nur einen Schritt mache. Kleine Punkte tanzen vor meinen Augen und plötzlich ist alles schwarz. Ein stechender Schmerz dringt zu mir durch und dann ist alles still.

Am nächsten Morgen schrecke ich hoch und richte mich in meinem warmen, kuscheligen Bett auf. Ich kann mich noch an jedes einzelne Detail meines fantasievollen Traums erinnern.

»Doch die Eulenfigur ist verschwunden, und hunderttausend kleine Lacksplitter liegen noch immer auf der Tischplatte.«



Die absurde Verwandlung // KurzgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt