Kapitel 4

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Heute war Samstag,also war die ganze Familie zu Hause. Ich war früh aufgestanden und hatte so viele Stunden lang Zeit gehabt,um zu überlegen,wie ich mich ausdrücken sollte. Um mich herum lagen unzählige außgerissene und zusammengeknüllte Blätter. Ich wollte heute gerne in mein altes Haus gehen,aber ich wusste einfach nicht wie ich diese Idee Karin und Sandro schmackhaft machen sollte. Ich hatte Angst,dass sie es vielleicht falsch auffassen würden oder es nicht erlaubten.
Nachdem die nächsten drei Versuche ebenfalls auf dem Boden gelandet waren und ich allmählich die Geduld verlor,beschloss ich einfach aufzuschreiben wie ich mich fühlte und was ich dachte. Was dabei heraus kam,war zwar ein wenig wirr,aber ich gab mich damit zufrieden. Da es jetzt so langsam Zeit fürs Frühstück war,ging ich herunter und überflog auf dem Weg nochmals das Blatt.
Karin stand bereits in der Küche und Sandro saß im Esszimmer und las Zeitung. Fabio war wahrscheinlich noch in seinem Zimmer und kam erst,wenn er die frischen Brötchen roch,die Karin jeden Samstag und Sonntag machte. Seit dem Vorfall in meinem Zimmer,hatte sich etwas zwischen uns verändert. Er war auf einmal richtig nett zu mir und behandelte mich so,als wäre ich ein echter Teil der Familie. Am Anfang war ich von seinem neuen Vehalten ziemlich überrascht gewesen,doch mittlerweile freute ich mich nur noch darüber,dass wir so gut miteinander klarkamen.
Ich beschloss mit meiner Ankündigung zu warten bis wir am Tisch saßen,weshalb ich das Blatt in meiner Hand erst einmal zur Seite legte und Karin half.
Genau wie ich es vorher gesagt hatte,kam Fabio genau in dem Moment nach unten,in dem das Frühstück fertig war und schön angerichtet auf dem Tisch stand. Als wir uns alle hingesetzt hatten,machte ich mit Fingerschnippsen auf mich aufmerksam und alle sahen mich leicht verwundert,aber auch interessiert an. Kein Wunder,ich "redete" nicht gerade oft. Während einer Unterhaltung dauerte es einfach viel zu lange alles aufzuschreiben. Meistens hörte ich einfach nur zu oder schüttelte den Kopf oder zog eine Grimasse.
Ich stand auf und holte mein Blatt mit der vorbereiteten Rede. Ich holte noch einmal tief Luft und sah meine neue Familie unsicher an,bevor ich Karin das Blatt übergab. Als sie anfing zu lesen,setzte ich mich wieder und holte schon einmal meinem kleinen Block und einen Kugelschreiber aus meiner Jackentasche,um mich auf die folgende Konversation vorzubereiten.
Als Karin fertig gelesen hatte,sah sie mich an und seufzte zweifelnd,dann reichte sie das Blatt wortlos an Sandro weiter. Auch er seufzte nachdem er es gelesen hatte und sah dann seine Frau an. Fabio,den die Reaktion seiner Eltern neugierig gemacht hatte,schnappte sich das Blatt und las es nun ebenfalls. Nach einigen Momenten der Stille stieß nun auch er einen Seufzer aus.
Ich konnte mich nicht länger beherrschen und schrieb "Was soll denn das ganze Geseufze? Die Welt geht noch nicht unter...". Ich lächelte leicht in der Hoffnung die Stimmung etwas zu lockern und schließlich ergriff Karin das Wort: "Also ich weiß ja nicht Carla. Bist du dir sicher,dass das eine gute Idee wäre?" Ich nickte und schrieb dazu: "Ich bin mir sicher,dass ich bereit bin. Ich muss es so wie so irgendwann machen und jetzt ist glaube ich ein guter Zeitpunkt". Immer noch zweifelnd sah Karin mich an,doch ich versuchte ihr mit meinem Blick zu zeigen,wie ernst ich es meinte. Ich wollte wirklich noch einmal zurück. Ich wollte meine Sachen holen,ich wolllte Abschied nehmen von dem Haus und den Erinnerungen und ich wollte mich noch ein eiziges mal so fühlen,als wäre alles nicht passiert.
Nach einer etwas längeren Pause in der jeder seinen eigenen Gedanken nachhing,sagte Sandro: "Wenn du das wirklich willst,dann respektieren wir das natürlich. Ich finde allerdings wir sollten mitkommen." Karin stimmte ihrem Mann zu und dann war es an mir eine Entscheidung zu treffen. Ursprünglich wollte ich tatsächlich eher alleine gehen,aber ich würde wohl kein besseres Angebot bekommen. Ich nickte und alle atmenten erleichtert aus. Das Frühstück lockerte die Stimmug wieder auf und als wir fertig waren,ging jeder in sein Zimmer um sich auf den kommenden Ausflug vorzubereiten.
Karin holte zwei Wäschkörbe,weil wir keine Umzugskartons hatten und aus irgendeinem Grund wollte Fabio mitkommen. Das störte mich zwar nicht,aber ich konnte mir einfach nicht genau erklären warum er mitgehen wollte.
Die Fahrt dauerte nicht besonders lang und als wir angekommen waren,bereute ich eigentlich schon wieder,dass ich diesen Vorchlag gemacht hatte. Ich dachte wirklich es würde mir nicht mehr so viel ausmachen mein altes Haus zu sehen,aber ich hatte mich getäuscht. Als wir aus dem Auto stiegen und vor dem Haus standen wurde mir richtig übel. Ich versuchte allerdings mir nichts anmerken zu lassen,denn sonst hätten Karin und Sandro mich sofort ins Auto gesteckt und nach Hause gefahren.
Ich holte einmal tief Luft,gab mir innerlich einen Ruck und holte den Hausschlüssel aus meinem Rucksack. Die Marianos fühlten sich sichtlich unwohl in ihrer Haut als sie mir durch die Haustür folgten. Ich konnte das verstehen,es war sicherlich nicht gerade eine tolle Erfahrung in das Haus der verstorbenen Familie seiner Adoptivtochter zu gehen. Seit dem Unfall war niemand mehr hier drinnen gewesen,bis auf die Polizisten,die mir die nötigsten Dinge ins Heim gebracht hatten. Wir gingen zunächst in die Küche und räumten ein wenig auf. Viele der Lebensmittel waren mittlerweile verschimmelt und die Sachen die noch gut waren,nahmen wir mit. Es war gut mit etwas anzufangen,dass man nicht direkt mit meiner Familie in Verbingung brachte. Natürlich musste ich beim Anblick der unzähligen Müslisorten sofort an meine Schwester denken,die jeden Morgen eine halbe Stunde gebraucht hatte,um zu entscheiden welches Müsli sie essen wollte und als ich den Esstisch sah,auf dem immernoch die Zeitung jenes Tages lag,sah ich sofort meine Eltern am Frühstückstisch sitzen. Allerdings waren das alles Erinnerungen mit denen ich mittlerweile einigermaßen klarkam. Wirklich Angst hatte ich vor den Fotos,die im Haus standen und vor dem Geruch,der vielleicht noch in ihren Zimmern zu erahnen war. Als wir die Küche so weit in Ordnung gebracht hatten,machten wir mit dem Wohnzimmer weiter. Wir sammelten ein paar der wirklich schnönen Fotos und Alben ein und räumten die vertrockneten Pflanzen aus dem Zimmer. Ich tat die meiste Zeit so,als wäre das nicht mein Haus und mein Wohnzimmer und meine Familie auf den Fotos. So konnte ich einigermaßen die Fassung bewahren,aber ich fühlte mich immernoch so als müsste ich mich jeden Moment übergeben.
Ich ging in mein altes Zimmer und packte ein paar Klamotten in einen der Wäschekörbe,bevor ich fast mein gesamtes Bücherregal ausräumte und ebenfalls in den Korb legte. Karin und Sandro hatten angefangen die anderen Räume zu putzen,denn nach all der Zeit lag hier wirklich viel Staub und Fabio brachte die Sachen ins Auto,die wir mitnehmen würden. Ich war ganz froh darüber kurz allein zu sein und mich so ein wenig zu sammeln. Ich hätte wirklich gedacht es wäre leichter wieder herzukommen. Also ich wusste ja schon,dass es schwer sein würde,aber ich hatte nicht gedacht,dass es so schwer sein würde. Mit einem Seufzen ließ ich mich auf mein altes Bett fallen und sah mich in meinem Zimmer um. Es fühlte sich alles fremd an,aber trotzdem war es mir vertraut...seltsam.
Wer hätte gedacht,dass sich mein Leben einmal so sehr verändern würde? Wer hätte gedacht,dass ich mich einmal so sehr verändern würde?
Ich konnte mich kaum noch mit der Person identifizieren,die hier gelegt hatte.
"Das hier war also dein altes Zimmer,hm",fragte Fabio,der in der Tür stand und riss mich so aus meinen Gedanken. Ich nickte und stand auf. Ich nahm den Wäschekorb und wollte ihn runter bringen,doch Fabio nahm ihn mich aus der Hand und sagte: "Ich mache das schon." Ich lächelte dankbar und als er die Treppe herunter ging,betrat ich bereits das Zimmer meiner Schwester. Darin gab es nichts,dass ich mitnehmen wollte,aber ich hatte trotzdem das Bedürfnis rein zugehen. Wie durch ein Wunder lebte der kleine Kaktus noch,den ich meiner Schwester vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Er sah zwar etwas mitgenommen aus,aber mit ein wenig Pflege würde er schon wieder werden. Nach kurzem Zögern,nahm ich die kleine Pflanze in die Hand und verließ dann das Zimmer. Jetzt fehlte nur noch das Schlafimmer meiner Eltern. Meine Hand zitterte,als ich die Tür öffnete. Alles sah so aus wie immer,doch irgendwie hatte sich gleichzeitig auch alles verändert. Auf der kleinen Komode neben dem Fenster lagen zwei Stofftiere. Der Elefant gehörte mir, als kleines Kind war ich nirgendwo ohne ihn hingegangen,und der Löwe hatte meiner Schwester gehört. Meine Eltern hatten sie die ganze Zeit aufbewahrt und jetzt war ich ihnen sehr dankbar dafür. Ich packte beide Stofftiere in meinen Rucksack und sah mich dann weiter um. Auf dem kleinen Schminktisch meiner Mutter stand ein fast voller Parfumflakon. Jedes Jahr hatte mein Vater ihr dieses spezielle Parfum zum Geburtstag geschenkt und sie hatte es jeden Tag benutzt. Ich nahm den Flakon,schraubte die Kappe ab und roch daran. Ich schloss die Augen und sah sofort meine Mutter vor mir. Ein trauriges Lächeln umspielte meine Lippen und öffnete ich die Augen,schraubte die Kappe wieder auf den Flakon und packte das Parfum in meinen Rucksack. Ich warf noch einen letzten Blick auf das Ehebett meiner Eltern und schloss dann die Tür hinter mir. Das Geräusch der sich schließenden Tür war erschreckend endgültig,doch ich war bereit. Ich war bereit loszulassen. Ich ging die Treppe hinunter und signalisierte Karin und Sandro,dass ich fertig war. Wir räumten noch ein paar Dinge weg und verließen dann das Haus. Im Rückspiegel des Autos schaute ich zu wie das Haus und damit auch mein altes Leben immer kleiner wurde und schließlich nicht mehr zu erkennen war.

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