Kapitel 5

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Seit unserem Besuch in meinem alten Zuhause hatte sich etwas in mir verändert. Mir war endlich klar geworden,dass ich einen Schlussstrich ziehen musste. Nicht nur unter mein altes Leben,sondern auch unter mein altes Ich. Mein altes Leben war weg,ich konnte es nicht wieder bekommen und das hatte ich jetzt endlich akzeptiert. Allerdings war ich auch nicht mehr diesselbe Person und ich wusste auch nicht ob ich überhaupt wieder zu meinem alten Ich werden wollen würde,wenn ich es könnte. Seit dem Unfall hatte ich mich verändert. Ich wusste viele Dinge in meinem Leben nun vielmehr zu Schätzen als zuvor und auch wenn es schwer war es zu akzeptieren,so wusste ich doch,dass der Unfall auch Gutes hervorgebracht hatte. Natürlich vermisste ich meine Familie unglaublich,aber ich wusste auch dass mir der Schmerz keinen von ihnen zurückbringen würde. Außerdem musste ich mir eigestehen,dass ich mit den Marianos eine reale Möglichkeit hatte,mir eine neue Familie aufzubauen. Sie würden meine alte Familie natürlich nie ersetzen können,aber ich war mir sicher,dass meine Eltern es sich wünschen würden mich gücklich zu sehen.
Dieser Gedanke bestärkte mich innerlich und ließ einen kleinen Teil des Gewichts,dass sich seit dem Unfall um mein Herz geschlossen hatte,verschwinden.

Ich lag in meinem Bett und las eines meiner Lieblingsbücher,als Karin in mein Zimmer kam. Sie lief auf mich zu und setzte sich vorsichtig neben mich auf das Bett. Ich legte mein Buch beiseite und sah sie neugierig an. Karin schenkte mir ein kleines Lächeln,nahm dann meine Hand und sah mich eindringlich an. "Also...ich wollte dir sagen...Die Schule hat angerufen und du kannst theoretisch ab sofort zum Unterricht kommen. Alle nötigen Vorbereitungen wurden getroffen. Mir ist allerdings wichtig,dass du erst wieder zur Schule gehst,wenn du bereit dafür bist. Und ich will nicht,dass du dich auf irgendeine Art unter Druck gesetzt fühlst oder sowas. Du hast alle Zeit der Welt und wenn du noch nicht bereit bist,dann ist das völlig in Ordnung." Nach einer kurzen Pause,in der ich sie völlig überrumpelt ansah,nickte ich Karin zu. Als sie mich ein wenig verständnislos ansah,nahm ich einen Stift und den kleinen Block von meinem Nachttisch und schrieb: "Ich bin bereit! Auf jeden Fall! Ich will wieder zur Schule gehen,ich bin mir sicher." Karin reagierte mit einem leichten Lachen auf meine Nachricht,dann wurde sie jedoch wieder ernst und sagte mit einer gewissen Vorsicht in der Stimme: "Es gibt da allerdings noch eine Kleinigkeit,die Sandro und ich gemeinsam beschlossen haben. Ich bin sicher du wirst nicht begeistert sein,aber wir denken,dass es dir helfen könnte besser mit allem klarzukommen. Wir wollen,dass du zweimal in der Woche zu einem Psychologen gehst." Nach einem Moment der Stille schrieb ich leicht aufgebracht: "Warum das denn? Ich komme schon klar wirklich. Ich brauche keinen Psychologen ehrlich. Mir geht es super." Karin atmete daraufhin einmal tief durch,bevor sie mit fester und entschlossener Stimmer erwiderte: "Darüber werde ich nicht mit Dir diskutieren. Es ist entschieden. Du wirst von jetzt an jeden Montag und Freitag zu Dr.Mars gehen,er ist einer der besten auf seinem Gebiet und jetzt keine Widerrede mehr." Mit einem entschiedenen Nicken bestätigte Karin ihre eigenen Worte und verließ anschließend das Zimmer. Ich verschränkte frustriert die Arme und starrte böse an die Decke. Das war wirklich das Letzte was ich erwartet hatte. Ich war doch bis jetzt auch ganz gut klargekommen,oder nicht? Hatte ich den Marianos denn je einen Grund zu der Annahme gegeben,dass ich nicht klarkam? Nein,hatte ich nicht! Jetzt musste ich mich also wirklich zweimal die Woche mit einem wildfremden Mann treffen,der nichts über mich wusste,aber so tat als könnte er mir helfen!? Was für ein Unsinn...

Am kommenden Freitag ging ich also zum ertsen Mal zu Dr.Mars. Karin hatte mich hingefahren,allerdings hatte sie dabei nicht ein Wort gesprochen,was für sie sehr untypisch war. Ich war mir sicher sie war noch aufgeregter als ich.
Im Wartezimmer angekommen,mussten wir fast eine dreiviertel Stunde warten,bis wir an der Reihe waren. Zunächst durfte Karin mit in das kleine Zimmer,in dem ich von nun an zweimal die Woche gefangen sein würde. In dem Zimmer befanden sich eine Couch und zwei Sessel mit großen Kissen,dazu lag ein farblich passender Teppich auf dem Boden und es gab zwei, nein drei Pflanzen. Der erste Eindruck passte schon mal. Als mein Blick weiter wanderte,landete er auf einem großen Schreibtisch,hinter dem ein großer,schlanker Mann mit hellbraunen Haaren saß. Der Mann war ungefähr Mitte dreißig und offenbarte eine Reihe strahlend weißer Zähne als er lächelte. Er ging um den Schreibtisch herum und kam auf uns zu. "Willkommen! Willkommen! Sie müssen die Marianos sein", rief er erfreut. Karin lächelte freundlich und antwortete: "Ja richtig, ich bin Karin Mariano und das ist Carla,meine Adoptivtochter." Adoptivtochter, dieses Wort klang wirklich komisch. Aber was hätte sie sonst sagen sollen?
Ich lächelte Dr.Mars leicht gezwungen an,doch er schien das nicht zu bemerken und grinste erfreut zurück. Oh Mann,das konnte ja heiter werden!
In der nächsten halben Stunde unterhielten sich Karin und Dr.Mars über meinen Fall und ich saß schweigend neben ihnen und beobachtete Dr.Mars aufmerksam. Ich war mir ziemlich sicher,dass er nicht verheiratet war, er trug keinen Ehering. Außerdem hatte er ein kleines Loch in seinem T-Shirt,welches darauf hinwies,dass er auch keine Freundin oder Verlobte hatte. Diese hätte das Loch bestimmt längst genäht. Außerdem hatte er sich schon mindestens zwei Tage nicht mehr rasiert. Die schwarzen Härchen an seinen Jeans stammten wahrscheinlich von einer Katze, zu dieser Annahme passten auch die feinen Kratzer,die man an seinem linken Schuh erkennen konnte. Er war alles in allem ein gepflegter Mann,der auf sein Äußeres achtete,trotzdem war ihm wohl nicht aufgefallen dass er zwei verschiedene Socken anhatte. Er war also entweder in Eile zur Arbeit gekommen oder er war von Natur aus verpeilt. Nach einigen Minuten entschied ich,dass Letzteres zutraf.
Ich war so in meinen Überlegungen versunken,dass ich gar nicht mitbekam,dass Karin mich angesprochen hatte. Erst als sie mich leicht am Arm berührte,sah ich sie an. "Wir sind jetzt fertig,ich warte draußen auf dich",erklärte sie und verabschiedete sich von Dr.Mars.
Als Karin das Zimmer verlassen hatte,wandte sich Dr.Mars mir zu und sagte: "Also Carla warum erzählst du mich nicht einfach erstmal etwas über dich?" Bei dem Wort "erzählen" malte er schulterzuckend ein paar Anführungszeichen in die Luft und wurde mir damit sofort etwas unsympathischer. Als Antwort auf seine Frage verdrehte ich bloß die Augen und ergab mich widerwillig meinem Schicksal...


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