In meiner ersten Woche bei den Marianos durfte ich das Haus,mit Ausnahme des Gartens,nicht verlassen. Karin meinte,ich müsse mich erst gut einleben,bevor ich langsam und Schritt für Schritt in einen normalen Alltag zurückfinden konnte. Sie war ein wenig überfürsorglich,aber ich hatte sie bereits nach kurzer Zeit in mein Herz geschlossen. Sie war eine unglaublich freundliche,aufgeschlossene und liebevolle Frau. Mit Sandro verstand ich mich auch ziemlich schnell sehr gut,nur mit Fabio kam ich noch nicht so ganz zurecht. Oder besser,er nicht mit mir. Er war nicht direkt unfreundlich zu mir,aber irgendwie abweisend und distanziert. Ich versuchte trotzdem immer höflich und nett zu ihm zu sein,denn schließlich lebten wir jetzt im selben Haus. Irgendwann würden wir uns sicher aneinander gewöhnen und uns dann vielleicht auch besser verstehen. Das musste einfach sein. Ich hatte wirklich großes Glück gehabt in eine Familie wie die Marianos aufgenommen worden zu sein. Wer weiß wie mein Leben jetzt aussehen würde,wenn sie nicht wären? Wahrscheinlich lange nicht so schön. Deshalb wollte ich wirklich,dass das alles funktionierte. Ich glaube nicht,dass es eine bessere Alternative für mich gegeben hätte. Außerdem gab es so wie so nur wenige Leute,die sich die Mühe machten eine Siebzehnjährige zu adoptieren,denn schließlich dauert es nicht einmal mehr ein ganzes Jahr bis ich achtzehn und somit volljährig wurde. Aus diesem Grund hatte ich das Gefühl,dass ich es den Marianos schuldig war mich zusammenzureißen und mein altes Leben loszulassen.
Heute war es endlich so weit,ich durfte Karin zum Einkaufen begleiten. Wir würden uns nach ein paar Möbeln und Deko für mein Zimmer umschauen und anschließend noch in den Supermarkt gehen. Ich freute mich darauf endlich wieder einmal aus dem Haus zu kommen. Es war zwar ein wirklich tolles Haus und auch der Garten war wunderschön,aber ich musste einfach raus. Ich musste wieder anfangen ein normales Leben zu führen,mit allem was dazu gehörte. Natürlich fühlte ich mich keinesweg bereit dazu,aber es war Zeit. Trotzdem stimmte ich Karin in dem Punkt zu,alles langsam und Stück für Stück anzugehen. Also: "Erste Lektion: Einkaufen".
Karin und ich hatten das gesamte Möbelgeschäft durchkämmt und dabei so viel Deko mitgenommen,dass ich mir nicht sicher war,ob das alles auch wirklich in mein Zimmer passte. Aber es hatte wirklich Spaß gemacht und ich hatte mich endlich das erste Mal seit langer Zeit wieder einmal normal gefühlt. So wie sich ein siebzehn jähriges Mädchen eben fühlen sollte,wenn es shoppen geht. Für einen kurzen Augenblick musste ich nicht darüber nachdenken,dass ich alles verloren hatte. Das war ein wirklich tolles Gefühl gewesen.
Mittlerweile waren Karin und ich am Supermarkt angekommen und ich holte schon mal einen Einkaufswagen,während sie versuchte auf dem überfüllten Parkplatz noch einen freien Platz für das Auto zu finden. Ich wartete vor dem Eingang und nach ein paar Minuten entdeckte ich die kleine,blonde Frau zwischen zwei parkenden Autos. "Hier ist ja die Hölle los",sagte sie lachend als sie mich erreichte und ich stimmte mit einem übertriebenen Nicken zu. Drinnen war gefühlt noch mehr los als auf dem Parkplatz und wir mussten uns mit vollem Körpereinsatz durch die Gänge drücken. Als wir endlich alles hatten und an die Kasse gingen,waren wir beide erleichtern darüber,dass wir es bald geschafft hatten. Zurück auf dem Parkplatz brachte ich den Einkaufswagen wieder zurück,nachdem wir ihn am Auto ausgeräumt hatten und Karin sammelte mich anschließend am Eingang wieder auf. Auf der Fahrt erzählte sie mir,wie immer wenn wir alleine waren,etwas über die Familie und Freunde. Sie wollte,dass ich mich fühlte als wäre ich schon immer ein Teil der Familie gewesen. Natürlich wusste sie auch,dass das alles nicht so einfach ging. Trotzdem gab sie sich große Mühe damit. Ich musste zudem gestehen,dass es mir tatsächlich half.Zuhause angekommen brachten Karin und ich die Einkäufe ins Haus und als ich das zweite Mal zum Auto lief,prallte ich auf dem Weg mit Fabio zusammen,der gerade von der Schule kam. Als Karin ihren Sohn entdeckte,rief sie lächelnd: "Du kommst ja wie gerufen,Fabio. Bitte hilf Carla mit den Einkaufstaschen,dann kann ich schonmal mit dem Kochen anfangen." Dann verschwand sie im Haus und Fabio folgte ihr. Wenige Augenblicke später kam er jedoch zurück und gab mir zwei etwas leichtere Tüten in die Hand,bevor er die letzten beiden nahm und wir brachten alles zu Karin in die Küche. Anschließend half er mir noch dabei den großen,blauen Teppich,den wir gekauft hatten in mein Zimmer zu schleppen. Ich war überrascht,dass er dabei nicht einmal einen blöden Kommentar abließ (wie sonst),beschloss aber mir nicht anmerken zu lassen. Ich wollte diesen kleinen Fortschritt nicht gleich wieder kaputt machen.
Als ich wieder herunter ging,um Karin in der Küche zu helfen,verschwand Fabio einfach in seinem Zimmer. So kenne ich dich,dachte ich mit einem leichten Lächeln im Gesicht.
Als Sandro von der Arbeit kam,aßen wir alle gemeinsam und ich hörte dem Tischgespäch aufmerksam zu ohne daran teilzuhaben. Daran hatte ich mich lange Zeit einfach nicht gewöhnen können und in solchen Momenten vermisste ich meine Stimme besonders. Nach dem Essen half mir Karin dabei mein Zimmer zu dekorieren,während Fabio den Abwasch erledigte. Mit den ganzen neuen Sachen sah es langsam wirklich gemütlich aus und fühlte sich immer mehr an wie mein Zimmer. Besonders der neue Teppich war ein Glücksgriff gewesen,denn er hatte exakt den selben Blauton wie die Kissen auf meinem Bett. Außerdem hatte ich eine Lichterkette mit weißen Kugeln über den Spiegel an meinem Schminktisch gewickelt und die verschiedensten Pflanzen überall im Raum verteilt. Das alles gefiel mir unglaublich gut und während ich alle möglichen Dinge quer durch den Raum und dann doch wieder zurück räumte,hatte ich ein glückliches und vor allem echtes Lächeln im Gesicht. Ich war so in meinem Element,dass ich gar nicht mit bekam,dass Karin und Sandro im Türrahmen standen und mir zufrieden dabei zusahen.Nachdem mein Zimmer jetzt auch wirklich mein Zimmer war,fühlte ich mich nochmals ein ganzes Stück mehr wie Zuhause. Irgendwann hatten Karin und Sandro mich meiner Arbeit überlassen und die Tür hinter ihnen geschlossen. Ich hatte noch einige Zeit gebraucht um alles zu optimieren,aber jetzt war es perfekt. Ich saß nun etwas ratlos vor meinem Schminktisch und wusste nichts mehr mit mir anzufangen.
Als ich in den Spiegel sah,erkannte ich mich kaum wieder. Es war lange her seit ich das letzte Mal mein Spiegelbild gesehen hatte,auch wenn ich nicht so recht wusste wieso. Als ich mich jetzt sah,erkannte ich den Grund jedoch sofort. Angst. Ich hatte Angst vor dem gehabt,was ich sehen würde. Mein Blick saugte sich förmlich an der Narbe fest,die sich einmal quer über meinen Hals zog. Es sah so aus als hätte mir jemand die Kehle aufgeschlitzt und ich konnte nicht mehr aufhören die hässliche Erinnerung an den schlimmsten Tag meines Lebens anzustarren. Ich weiß nicht wie lange ich so dasaß,aber irgendwann berührte mich jemand an der Schulter und riss mich so aus meiner Trance. Als ich aufblickte,musste ich kräftig blinzeln und bemerkte erst dann,dass ich geweint hatte. Fabio stand mir gegenüber und sah mich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. Es war Mitgefühl und ein Hauch von...Schmerz? Peinlich berührt sah ich vor mir auf den Boden und versuchte so seinem Blick zu entgehen. Doch nur wenige Sekunden später spürte ich seine Finger unter meinem Kinn,die mich zwangen meinen Kopf zu heben und ihn wieder anzusehen. Er zögerte kurz,bevor er einen Schritt näher trat und mich in eine Umarmung zog. Ich war zu überrascht,um mich zu wehren,doch ich war froh darüber. Die Umarmung war echt und sie bedeutete mir viel,auch wenn wir uns noch gar nicht lange kannten. Trotzdem lösten wir uns schnell wieder von einander und bevor er das Zimmer verließ,sagte er nur noch: "Es gibt Abendessen."
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Nie Mehr Wieder
Novela JuvenilSo wie ihre Mutter wollte die siebzehn jährige Carla immer eine Sängerin werden. Doch nach einem folgenschweren Autounfall,verliert sie nicht nur ihre Familie sondern auch ihre Stimme. Nichts ist mehr so wie es war, aber ist deshalb wirklich alles v...