Kapitel 6

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Ich glaube ich war noch nie in meinem Leben so nervös wie in diesem Augenblick. Ich stand vor dem Eingang zu meiner neuen Schule. Vor Karin und Sandro hatte ich so getan als wäre alles in Ordnung,ich hatte Angst sie würden mich sonst nicht gehen lassen, allerdings ließ ich meiner Nervosität - jetzt wo ich allein war - freien Lauf. Mittlerweile bereute ich,dass ich Fabio's Angebot, mich zu begleiten, abgelehnt hatte. Jetzt wäre ich wirklich froh,er wäre doch da.
Um mich herum waren ganze Scharen von Schülern und alle liefen zielsicher durch die Menge zu ihren Freunden. Ich hingegen stand mitten in der Masse und wünschte ich müsste mich dem kommenden Tag nicht stellen. Es fiel mir schon immer schwer mich irgendwo richtig einzufinden und außerdem war es mitten im Jahr und alle würden sich fragen warum ich erst jetzt auf die Schule komme. Zudem hatte ich in den letzten Monaten,in denen ich nicht in der Schule war, viel Stoff verpasst und das würde sich jetzt mit Sicherheit rächen.
Bevor ich auf den Gedanken kommen konnte einfach wieder umzudrehen und Karin zu sagen,dass ich doch noch Zeit brauchte, gab ich mir innerlich einen Ruck und lief die steinernen Stufen zum Eingang hinauf.
Mir wurde ein kleiner Orientierungsplan von der Schule per Post geschickt und auch wenn er total unübersichtlich war, so war ich doch froh ihn zu haben,denn die Schule war ein einziger gigantischer Irrgarten. Nachdem ich einige Minuten verzweifelt von einer in die andere und dann doch wieder in die entgegengesetzte Richtung geirrt war, fand ich endlich das Sekretariat. Oder vielmehr, ich ließ mich unauffällig hinführen. Ich hatte gehört wie ein Mädchen sich bei ihrer Freundin beklagt hatte,dass sie ins Sekretariat musste. Allerdings bekam ich nicht mit warum das so schlimm war. Auf jeden Fall verfolgte ich dem Mädchen daraufhin und kam schließlich tatsächlich zu meinem Ziel.
Nachdem ich durch die Glastür getreten war,wurde mir sofort bewusst,warum das Mädchen nicht hierhin wollte. Als ich in den Raum kam,wurde ich förmlich von einer Parfumwolke erschlagen. Und es war noch nicht einmal ein gut riechender Duft, es war ein eckelhaftes und aufdringliches Alt-Oma-Parfum. Neidisch sah ich, wie das Mädchen etwas in eine Art Briefkasten warf und den Raum anschließend erleichtert wieder verließ.
Als ich mich nach rechts wandte und zu dem großen Schreibtisch trat,hinter welchem der Ursprung des Gestanks saß,musste ich durch den Mund atmen,um mich nicht zu übergeben. Die alte Dame am Schreibtisch sah mich freundlich lächelnd an und sofort taten mir meine gemeinen Gedanken leid. Nichtsdestotrotz war es wirklich ein schreckliches Parfum und ich hoffte ehrlich,dass ich bald wieder von hier verschwinden konnte.
"Was kann ich für Dich tun Liebes",fragte die Sekretärin mit einer unglaublich hohen Pieps-Stimme. Ich versuchte mich an einem Lächeln und reichte ihr das Blatt,auf dem ich alles aufgeschrieben hatte,was ich heute vielleicht antworten musste. Nach einigen Minuten des Schweigens,in denen sie las, nickte sie ein paar Mal und sagte dann: "Also gut Kleines, ich werde dich jetzt zu deinem Klassenraum führen und Dir alles wichtige auf dem Weg erklären. Ach,und das hier ist Dein neuer Stundenplan." Sie reichte mir das Blatt und wir machten uns auf den Weg. Während ich ihr bei ihrem Gelabber zuhörte,betrachtete ich sie genauer. Folgende Informationen reimte ich mir zusammen: Sie war eine ältere Dame,wahrscheinlich so um die sechzig; sie hatte absolut keinen Modegeschmack (sie trug nur braun und beige und ihre Klamotten wahren zwei Nummern zu eng); sie war verheiratet; sie rauchte (oft und viel); sie war sehr überzeugt von sich und sie trank Kaffee (das verriet mir ein großer Fleck auf ihrer braunen Bluse).
Ich versuchte immer so viel wie möglich über eine Person herauszufinden,wenn ich sie das erste Mal sah,denn ich war davon überzeugt,dass der erste Eindruck mehr wert war als alle weiteren. Zudem wusste ich immer gerne mit wem ich es zu tun bekam. Die nahezu einzigen Personen, bei denen ich meine Begutachtung auf einen späteren Moment gelegt hatte,waren die Marianos gewesen. Bei ihnen hatte ich mich absichtlich zurückgehalten um nicht vorschnell zu urteilen,denn immerhin hätte mich wohl außer ihnen keine Familie adoptieren wollen. Wenn ich recht darüber nachdachte, wusste ich immer noch nicht warum sie mich ausgewählt hatten,denn immerhin war ich schon so gut wie volljährig. Aber ich sollte wohl lieber dankbar sein,als mir darüber Gedanken zu machen. Vielleicht wollte das Schicksal sich so bei mir entschuldigen für die schrecklichen Dinge,die es mir angetan hatte.
Mittlerweile waren wir an dem Klassenzimmer angekommen,in dem ich jetzt Geschichte haben sollte. Die Sekretärin,sie hieß übrigens Frau Castello, öffnete die Tür und ließ mir den Vortritt. Kaum hatte ich,dicht gefolgt von Frau Castello,das Zimmer betreten,lagen auch schon alle Blicke auf mir. Ich hasste diese Art von Situationen. Nichts war für mich schlimmer als im Mittelpunkt zu stehen.
Zum Glück rettete mich Frau Castello indem sie auf den Lehrer zulief,der gerade etwas an die Tafel hatte schreiben wollen als wir rein kamen. Sie unterhielten sich kurz leise,bevor Frau Castello sich umdrehte und zur Tür lief. Als sie an mir vorbei kam,wünschte sie mir noch kurz viel Glück und verließ dann den Raum. Jetzt war ich wohl auf mich allein gestellt.
Mein neuer Lehrer,der so um die 30 sein düfte und sich mir als Herr Schleierling vorstellte, schenkte mir ein strahlendes Lächeln,das eine Reihe schöner,weißer Zähne offenbarte und sagte anschließend: "Willkommen, Carla! Ich würde sagen,unter den gegebenen Umständen lassen wir das besser mit dem Vorstellungszeug und du setzt dich am besten gleich."
Zum ersten Mal wandte ich mich der Klasse zu und suchte einen freien Platz zwischen all den Gesichtern,die mich neugierig beobachteten. Als ich schließlich einen Platz fand,der möglichst weit hinten im Raum war,ging ich darauf zu und setzte mich hin. Es war zwar nicht die letzte Reihe,aber die vorletzte,was auch noch akzeptabel war.
Herr Schleierling stellte mich kurz allen vor und erklärte ihnen meine "Situation" ,bevor er seinen Unterricht fortsetzte.

Nach der Stunde nahm mich Maja - das Mädchen mit dem ich gerade zusammen gesessen hatte - unter ihre Fittiche. Ich musste zugeben,dass sie wirklich nett war,auch wenn sie nicht aufhören konnte zu quasseln. Sie erklärte mir alles was ich so wissen sollte und klärte mich außerdem darüber auf was an der Schule so vor sich ging. Als ich ihr meinen Stundenplan zeigte, stellten wir fest,dass wir fast alle Kurse zusammen hatten, was mich enorm erleichterte,denn ich kannte ja sonst niemanden. Na ja also bis auf Fabio,aber das war etwas anderes. Zum Glück hatte ich alle Kurse,die ich nicht mit Maja zusammen hatte, mit Fabio. Er war in einer der kurzen Pausen kurz zu mir gekommen und hatte mir erklärt welche Kurse wir zusammen hatten.
Er war mittlerweile wirklich nett zu mir und hatte sich sogar gefreut,dass ich ab heute in die Schule ging.
Maja und ich hatten auch die nächste Stunde zusammen,wehalb wir uns gemeinsam auf den Weg machten. Dass ich nicht reden konnte,schien ihr überhaupt nichts auszumachen, allerding redete sie aber allein auch genug für uns beide. Mich störte das nicht,sie war wirklich lustig,fröhlich und aufgeschlossen. Ich mochte sie jetzt schon.
Als nächstes hatten wir eine Stunde Italienisch und zu meinem Glück teilte Maja meine Vorliebe für Plätze in der letzten Reihe. Nachdem wir unsere Plätze gesichert hatten,gingen wir gemeinsam zu der Lehrerin nach vorne und Maja stellte mich vor. Die Lehrerin,Frau Tambani,sah mich ein wenig traurig und mitleidig an als sie mich begrüßte und ich lächelte ihr etwas unbeholfen entgegen. Dann läutete aber auch schon die Klingel und Maja und ich setzten uns wieder hin.

In der Mittagspause nahm mich Maja dann mit zu ihren Freunden und machte mich bekannt. Alle aus der Gruppe waren genauso nett und aufgeschlossen wie sie und ich fühlte mich sofort wohl und willkommen. Die Gruppe bestand aus drei Jungs - Ben, Robin und Alex (von welchem ich mir sicher war,dass er schwul sein musste) - und,mich und Maja außgenommen, zwei Mädchen. Die hübsche Blondine mit den blauen Augen war mit Robin zusammen und hieß Tamina und die ebenfalls wunderschöne Brünette neben ihr hieß Rosa. Sie hatte braune Augen und war wie ich eher ruhig.
Keinen von ihnen schien es zu stören,dass sie immer etwas warten mussten bis ich eine Antwort auf meinen Notizblock gekritzelt hatte,wenn sie mir eine Frage stellten und sie warteten immer geduldig bis alle den Zettel gelesen hatten,bevor es mit der Unterhaltung weiterging. Ich freute mich sehr darüber dass sie mich ganz normal behandelten,denn nichts war schlimmer als das gespielte Mitleid der Leute,die ich sonst so traf. Wer hätte gedacht dass mein ertser Tag schon so gut laufen würde? Mehrmals ertappte ich mich bei dem Gedanken,dass ich wirklich richtig glücklich war. Das erste Mal seit so langer Zeit war ich ehrlich richtig glücklich.

Nach der Schule wartete Fabio am Eingang auf mich und noch bevor ich ihn erreicht hatte,strahlte ich ihn glücklich an. "Guten ersten Tag gehabt",fragte er lachend als er meine Fröhlichkeit bemerkte und ich nickte euphorisch als Antwort. Fabio nickte zufrieden und schien unglaublich erleichtert zu sein. Als ich gerade meinen Notizblock hervorholte um ihm alles zu erzählen, nahm er meine Hand um mich am Schreiben zu hindern und sagte: "Erzähl mir lieber alles zu Hause und in Ruhe, sonst musst du eh nochmal alles für Mom und Dad wiederholen." Ich nickte,das war wahrscheinlich wirklich einfacher. Trotzdem konnte ich mir mein Lächeln nicht aus dem Gesicht wischen und hüpfte auf dem Weg nach Hause herum wie ein kleines Kind.

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