Kapitel 1

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DOMUS ANIMI

Die großen Buchstaben über dem steinernen Torbogen lassen mich erschauern. Und das liegt nicht nur daran, dass mir der Lateinunterricht in nicht allzu guter Erinnerung geblieben war.
Das schwere Tor fällt hinter mir wieder ins Schloss, wie in einem Geisterfilm. Jetzt bin ich von der mächtigen Mauer, die das Chateau umgibt, gefangen.
Allerdings sitzt glücklicherweise ein Mensch in dem kleinen Häuschen neben dem Tor, der mich nett anlächelt. Ich versuche nicht weiter darüber nachzudenken, dass das Tor überhaupt nicht danach aussieht, als wäre es in irgendeiner Weise verkabelt oder elektrisch steuerbar.
Ich frage mich ernsthaft, in was für einem Fantasy-Roman ich hier Zuflucht gefunden habe. Real kann all das nicht sein.
Der Spuk hatte vor einem Monat richtig begonnen. Ich war als Begleitung meines älteren Bruders auf dem Abschlussball seines Jahrgangs. Er war schon immer sehr zurückhaltend und hatte deswegen keine Begleitung abbekommen, dabei wäre er so eine gute Partie. Wenn er nicht mein Bruder wäre, hätte ich mich sicher schon in ihn verliebt.
So durfte ich an seiner Seite den sagenumwobenen Abschlussball betreten. Es war in der Tat so überwältigend, wie es mir die anderen Mädchen in meinem Jahrgang vorausgesagt hatten. Das Anwesen, in dem gefeiert wurde, war riesig und schon die Eingangshalle war überladen geschmückt. Es wirkte, als hing der Glitzer wie eine zweite Decke in der Luft. Überall herrschte warmes Licht, obwohl ich nirgendwo eine Lampe gesehen hatte. Das Personal bewegte sich und die Speisen mit einer Leichtigkeit, die kaum erklärbar war.
Nach dem Abendessen, bei dem ich zufrieden in meinem ausladenden blassblauen Kleid neben meinem Bruder gesessen hatte, passierte es.
Ich hatte so etwas schon öfter erlebt, aber noch nie hatte es solche Folgen wie an diesem Abend. Bastien nahm das Handy seines Kumpels über den Tisch hinweg entgegen. Ich wollte eigentlich tanzen und fand es etwas unangebracht, dass sie schon wieder am Handy hingen, aber ich wollte ihn auch nicht zwingen.
Dabei stieß Bastien aus Versehen ein Glas um. Der Rest, des Bieres, das er zum Abendessen getrunken hatte, verteilte sich quer über den Tisch. Viel hatte er nicht getrunken. Die Tischdecke saugte es langsam auf, während Bastiens Gegenüber es noch gar nicht bemerkt zu haben schien.
Ich griff blitzschnell nach dem Glas und rette so zumindest noch eine kleine Pfütze, die nicht weiter zu der Überschwemmung beitrug. Es war mir peinlich. Ich wollte endlich mit Bastien tanzen und das wurde nichts, wenn er wieder einmal an sich selbst zweifelte, weil er sich für außerordentlich ungeschickt hielt. Ich wünschte mir wirklich, das Glas würde sich einfach wieder füllen und wir könnten endlich tanzen.
In diesem Augenblick, ich starrte wütend die Pfütze an, wich die Flüssigkeit langsam wieder zurück. Sie schien von dem Glas angezogen zu werden und floss scheinbar durch den Boden zurück in das Glasinnere. Es füllte sich, während die Tischdecke trocken zurückblieb.
Scheiße, das war zwar haargenau, was ich gewollt hatte, aber eigentlich in einer anderen Form. Bastiens Freunde mussten es doch gesehen haben!
Ich saß kleinlaut da und hoffte inständig, sie würden keine unangenehmen Fragen stellen, die ich nicht beantworten konnte.
„Gehen wir tanzen?", fragte ich Bastien und er nickte nur.
Auf der Tanzfläche suchten wir uns einen geeigneten Platz am Rande der tanzenden Menge. Wir hatten noch eine ganze Weile am Tisch gesessen, so dass einige sich bereits aufgemacht hatten.
„Aurélie!", zischte Bastien, während er mich vorsichtig führte. Tanzen konnte er. Ich fand, das war auch ein Beweis dafür, dass er nicht vollkommen unfähig sein konnte. Zum Tanzen brauchte es Geschick.
„Was war das gerade?", fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich weiß es nicht", gab ich zerknirscht zurück. Wir waren uns aber beide einig, dass ich es war. Etwas wie das war mir zuhause schon öfter passiert. Ich wusste nicht, was es war, aber in letzter Zeit war es immer häufiger geworden. Es war ein Wunder, dass meine Eltern sich noch nicht darüber gewundert hatten, aber meist passierte es so schnell, dass jemand der nicht besonders aufmerksam war, es gar nicht erst sah, und meine Eltern hatten sehr häufig andere Dinge im Kopf.
„Hast du schon mal versucht irgendetwas darüber herauszufinden?", fragte Bastien weiter.
„Wie das denn? Sollte ich vielleicht googeln, „warum ich übernatürliche Fähigkeiten habe"?" Ich zog die Augenbrauen hoch und hoffte, dass es glaubwürdig aussah. In Wahrheit hatte ich das natürlich schon längst getan. Diese Recherche war aber sehr erkenntnislos beendet worden.
„Da war eben noch eine Kellnerin, die hat es auch gesehen", meinte Bastien dann, ohne weiter auf das Recherche-Thema einzugehen. Wahrscheinlich hatte er mich durchschaut.
„Bist du sicher?" Ich zog die Stirn kraus. Ich musste mich nebenbei auch noch aufs Tanzen konzentrieren. Dank Bastiens guter Führung fiel es mir etwas leichter, aber ohne nachzudenken wäre ich ihm trotzdem gnadenlos über die Füße gefallen.
„Sie hatte schon einen Lappen in der Hand und stand am Kopf des Tisches. Frag mich nicht, woher sie den Lappen so schnell hatte, aber sie war da."
„Und dann war das Glas plötzlich wieder voll, nicht wahr?", sagte eine tiefe, furchteinflößende Stimme neben uns plötzlich.
Ich zuckte so sehr zusammen, dass Bastien mich kurzfristig erschrocken losließ, dann aber schnell wieder meinen Arm griff, weil ich bedenklich schwankte.
Da stand ein Mann neben uns. Er war mittleren Alters, trug Bart und hatte tiefliegende farblose Augen, die mehr als gruselig wirkten. Dazu eine Hakennase und sehr kurze schwarze Haare.
„Würden Sie bitte einmal mit mir mitkommen, Aurélie?" Woher kannte er meinen Namen? Mein Knie wurde weich. Das war sehr gruselig. Ich hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, dass das hier nicht gut enden würde.
„Nein, sie möchte noch einen Moment tanzen", entschied Bastien, dem die Situation scheinbar ebenfalls unbehaglich war.
„Mr. Huntington?" Neben dem sehr unheimlichen Mann tauchte eine Junge auf. Ich schätzte ihn auf Bastiens Alter. Er trug einen schwarzen Smoking und hätte auch genauso privat auf dem Abschlussball sein können. Scheinbar gehörte der gutaussehende Typ mit den dunklen Haaren aber zu diesem gruseligen Herrn.
Der Kerl starrte mich an und mit einem Mal, verschwamm in meinen Gedanken alles. Ich riss die Augen auf und starrte Bastien an. Dann war ich nur noch stiller Beobachter.
Sie führten mich durch die tanzende Menge. Niemand schien uns wahrzunehmen. Ich konnte keine Gesichter erkennen, konnte mich nicht zu Bastien umdrehen. In meinem Kopf herrschte nur noch Nebel.
Sie setzten mich auf einen Stuhl, während der Junge mir gegenüber Platz nahm. Der gruselige Mann lief im Zimmer auf und ab. Mehr konnte ich nicht wahrnehmen. Alles um uns herum waren nur noch Schlieren. Mein Fokus lag auf dem Typen vor mir, ohne dass ich das in irgendeiner Weise beeinflussen konnte.
„Wie ist dein Name?", fragte die Stimme des Mannes aus dem Off.
„Aurélie Dirksen", antwortete ich und fürchtete mich augenblicklich vor dem tonlosen Klang meiner eigenen Stimme.
„Wie alt bist du?"
„Siebzehn"
„Wo gehst du zur Schule?"
„Gymnasium Rothenfelde" Jetzt stieß der Mann plötzlich zu unserem Stuhlkreishinzu.
„Sie hat doch gesagt, sie hätte es gesehen!", fuhr er den Jungen an. Er nickte und ich erhaschte ganz kurz einen winzigen Gedanken zurück. Sie? Die Kellnerin?
„Wie hast du das Glas wieder aufgefüllt?", fragte er barsch und stellte sich vor mich. Er verdeckte die Sicht zu dem Jungen. Mich erfüllte Angst, weil es scheinbar tatsächlich um diese merkwürdigen Dinge ging. Als der Mann wieder zur Seite trat, verschwand auch dieser Gedanke wieder im Nebel.
„Ich weiß es nicht", antwortete ich dann.
„Welche Art von Anima bist du?", fragte er weiter.
„Ich weiß es nicht", wiederholte ich tonlos. Ich versuchte mich auf dieses Wort zu konzentrieren. Es kam mir bekannt vor, aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Lüg' nicht!", fuhr er mich an. Ich zuckte nicht einmal mit der Wimper, obwohl er mich unheimlich erschreckte.
„Woher hast du die Eigenschaft trotz der Anwesenheit eines Animus animalis zu lügen?", fragte er dann weiter. Scheinbar hatte er sich wieder etwas gefasst.
„Ich lüge nicht."
„Sie kann nicht schon 17 sein und nichts von ihrer Begabung wissen! Warum lügt sie?" Daraufhin stellte er sich wieder zwischen mich und den Jungen. Dieses Malschrie er allerdings ihn an.
Ich fragte mich, was all das zu bedeuten hatte. Was war Animus? Plötzlich erinnerte ich mich an den Lateinunterricht, was schon etwas heißen sollte, denn dort war ich nie besonders aufmerksam gewesen. War das nicht eins dieser bescheidenen Wörter, die unendlich viele Bedeutungen hatten? Geist, Herz, Seele, Mut oder so ähnlich?
„Sie lügt nicht", sagte der Junge gerade zu dem gruseligen Mann. „Ich weiß nicht, was mit ihr ist, aber sie wehrt sich nicht wie eine ausgebildete Schülerin. Sie ist stark, weiß es aber nicht zu nutzen."
Was sollte das denn schon wieder bedeuten? Wessen Schülerin war ich nicht? Warum war ich stark? Ich musste dringend hier weg, hatte aber keinerlei Ahnung, wie.
Der Mann drehte sich wieder zu mir um.
„Wir nehmen sie mit", beschloss er dann. Mein Magen zog sich zusammen. Dann trat der Mann zur Seite und der Nebel verschluckte mich wieder, als der Junge mich ansehen konnte.
Sie führten mich durch eine Hintertür, die mir nicht aufgefallen war, ins Freie.
„Geh und sorge dafür, dass sie drinnen niemand vermisst!", herrschte der Mann den Jungen an, woraufhin er sich wieder umdrehte und zurück hineinging.
Augenblicklich lichtete sich der Nebel. Ich hatte unglaubliche Angst, dass Bastien etwas passieren könnte. Ich wusste nicht, was er mit ihm machen würde. Nichtdass er sich nachher gar nicht mehr an mich erinnern könnte!
Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich musste hier irgendwie weg, aber es war stockdunkel und der Mann umklammerte mit einer Hand meinen Arm. Ich musste irgendwie einen klaren Gedanken fassen. Und damit musste ich mich beeilen, denn gleich wäre der Typ wieder da.
Die blanke Panik erfasste mich. Nichts mit einem klaren Gedanken. Ich begann zu zappeln und nach dem Mann zu treten.
„Lassen Sie mich los!", schrie ich. Der Nebel war jetzt gänzlich verschwunden.
„Du kleines Miststück! Hör auf damit!", fauchte der Mann, aber ich tat ihm den Gefallen nicht. Er bückte sich und hob einen Stock auf. „Ich kann dir auch wehtun!", drohte er. Wollte er mich mit dem Stock schlagen?
Nein, keine Sekunde später loderte ein Feuer an der Spitze des Stockes. Scheiße, was war das bloß für ein abgedrehter Verein?!
Er hielt sie an mein Kinn, sodass ich den Kopf in den Nacken legen musste. Die Hitze prickelte auf meiner Haut.
„Na, immer noch so vorlaut?", fragte er höhnisch. Ich sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Die blanke Panik war in Angststarre übergegangen.
„Wo wir gerade dabei sind: Möchtest du mir nicht doch erzählen, was für eine Anima du bist?"
„Ich weiß es nicht", presste ich hervor. Was wollte er denn hören?
„Verkauf mich nicht für dumm!" Die Hitze an meinem Kinn wurde deutlicher. Ich roch den Rauch, der in meine Nase stieg und begann zu husten. Dann setzte mit einem Mal unsäglicher Schmerz ein. Ich stolperte einen Schritt zurück, aber er hielt mich weiter fest und rückte mit seinem brennenden Stock nach.
„Nun sag schon! Was bist du?"
„Keine Ahnung", wimmerte ich, während das Feuer meinem Kiefer verbrannte. Ichspürte nur noch ein großes Pochen in meinem ganzen Körper. Seinen festen Griffnahm ich gar nicht mehr wahr.
Ich presste die Zähne zusammen, um nicht zu schreien.
„Dominus! Sie sind auf dem Weg hierher! Ich habe sie im Foyer gesehen!" Die Stimme des Typen kam dichter. In meinen Ohren wurde aber alles von dem Pochen überschattet. Um mich herum begann sich alles zu drehen.
„Dominus!", hörte ich den Jungen noch aufschreien, bevor alles um herum schwarz wurde und ich zu Boden ging. 

ANIMIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt