Kapitel 6

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Ich hänge noch immer über dem Buch und lese mich schon einmal in die Themen der nächsten Stunden ein, als es an der Tür klopft.
Ich stehe auf und öffne Christine die Tür.
„Magst du mit runter zum See kommen? Gab hat noch ein paar interessante Sachen gefunden."
Ich nicke schnell. Über Leclerc haben die beiden auch eigentlich noch gar nichts erzählt. Das dürften sie gerne noch nachholen.
Ich drehe mich nur noch einmal um, um das Fenster zu schließen. Das Wasserglas steht unberührt auf dem Tisch, doch das offene Buch scheint plötzlich von einem Windstoß erfasst zu werden.

Animi duplices und Animi totales

So lautet die Überschrift der Doppelseite, die durch den Windstoß aufgeschlagen wurde.

Schüler, die sich intuitiv nicht einer der fünf Varianten zuordnen können, sind eventuell Animi duplices. Das bedeutet, sie verfügen über die Begabung, mehrere Fähigkeiten auszuprägen. Eine andere, äußerst seltene Variante, sind die Animi totales. Sie können im Laufe ihres Lernprozesses die Fähigkeiten aller fünf Bereiche erlernen und in sich vereinen.

Ich bekomme eine Gänsehaut. Bin ich womöglich eine Anima duplex? (Wenn man es so dekliniert... Ah, doch da steht es so). Aber warum haben sie mich dann so lange nicht gefunden? Oder haben sie mich gerade deswegen nicht gefunden?
Ich schließe schnell das Fenster, bevor der Wind mir noch andere Dinge offenbart und will das Buch schließen. Dan fällt mein Blick jedoch auf eine Abbildung. Es ist ein massiver Stein, in das fünf Symbole gemeißelt sind. Tropfen, Wirbelsturm, Magnetfeld, Flamme und Telepathie. Sie sind genauso angeordnet wie neulich Nacht, als sie an meiner Traumtür erschienen sind.
„Aurélie, kommst du?" Christine steht wartend im Türrahmen.
Ich schließe hastig das Buch und gehe dann mit ihr.
Wir sammeln Gabriel in der Bibliothek ein und wandern dann wieder hinunter zum See.
„Ist das Gelände eigentlich gesichert?", frage ich. Wenn sie uns hier vor Leclerc beschützen wollen, wäre das auf jeden Fall ratsam. Wenn Colver hier jahrelang zur Schule ging, müsste er doch sonst alle mal hier hineinkommen können.
„Ja, es heißt das Schloss wird seit dem Mittelalter von einem Band umgeben, das tief im Erdreich liegt und nie von einem Animus überquert werden kann", erklärt Christine, „Niemand weiß genau, was an dieser Geschichte dran ist, aber einige Meter vor dem Band steht zu unserem Schutz diese riesige Mauer. Du hast sicher das Tor gesehen, als du gekommen bist. Die Mauer reicht um das ganze Gelände herum und es gibt nur dieses eine Tor."
Wie war das mit der Freiheitsberaubung? Ich habe nur Glück, dass mein Gefängnis so groß ist. Und auch noch so nette Orte zu bieten hat.
„Ok, jetzt erst einmal von Anfang an. Wer ist Leclerc eigentlich?", versuche ich den Anfang zu machen, als wir am See ankommen. Dieses Mal bleiben wir am Waldrand stehen. Wir setzen uns in den Schatten eines Baumes. Christine lehnt mit ihrem Rücken am Stamm, während ich ihr im Schneidersitz gegenübersitze.
„Ich habe heute erst eine interessante Sammlung an alten Zeitungsartikeln gefunden, die unser Bild vervollständigt", beginnt Gabriel. Er lässt sich neben Christine nieder. Seine ausgestreckten Beine zeigen in Richtung See. „Wir wissen schon seit einigen Jahren, dass Leclerc hier auf die Schule ging. Er war aber nur fünf Jahre hier. Danach ist er mit seinen Eltern nach Brasilien gezogen. Dort hat er mit den Ritualen der Einheimischen experimentiert und eine neue Ars erschaffen, die weit über das hinausgeht, was als notwendige Kontrolle gilt."
„Wir haben dir ja schon erzählt, dass er kein besonders mächtiger Animus ist, und das kann auch die Ars ab Americae nicht grundlegend ändern, aber das Erlernen dieser Techniken hat ihn als Person anziehend gemacht", meint Christine und Gabriel nickt zustimmend, „Vor allem hier in Europa wollten die Animi unbedingt von seinem Wissen profitieren. Starke Animi konnten durch die Ars ab Americae ihr volles Potential ausschöpfen und so sammelte Leclerc mit der Zeit eine kleine Basis an Anhängern um sich."
„Damit wären wir auch bei meiner neuen Entdeckung", wirft Gabriel dann ein. „Ich habe einen Zeitungsausschnitt gefunden, in dem unsere Schule erwähnt wird. Deshalb haben sie es wohl nur abgeheftet. Jedenfalls ist es das Abschlussfoto einer renommierten Wirtschaftsschule, denn dort hart Leclerc erst einmal Fuß gefasst, als er zurück nach Europa kam. Und jetzt ratet mal, wer noch auf diesem Foto drauf war!"
Gabriel schien ziemlich überzeugt von seiner tollen Entdeckung. Ich hatte sowieso keine Ahnung, aber auch Christine schien nichts einzufallen. Gabriel richtet grinsend seinen Blick auf den See, während er mit einer Hand locker einen Kiesel in die Luft wirft und wieder auffängt.
„Richard Huntington", klärt er uns dann auf, als niemand einen Vorschlag abgeben mag.
„Huntington? Der Huntington?", fragt Christine aufgeregt. Sie sitzt kerzengerade und starrt Gabriel von der Seite an. Er legt seinen Kiesel zur Seite und wendet sich ebenfalls zu uns.
„Naja, ich denke doch. So viele Huntingtons kenne ich hier in der Gegend nicht und der Mann auf dem Foto hatte schon gewaltig Ähnlichkeit mit Colver. Stand da wie ein Model." Jetzt fällt auch bei mir der Groschen. Es geht um Colvers Vater. Der hat zufällig nach der Schule die gleiche Laufbahn eingeschlagen wie Leclerc. Dabei haben die beiden sich kennengelernt.
„Das war aber nicht das erste Mal, dass sie sich getroffen haben", fährt Gabriel fort, „In den alten Jahrbüchern sind jedes Jahr alle Schüler abgebildet und hier sind Leclerc und Huntington ebenfalls gemeinsam auf einem Bild zu sehen. Sie kamen zusammen hierher und haben ihre Ausbildung als Animi begonnen, dann ist Leclerc jedoch nach Brasilien gezogen, während Huntington seinen Abschluss hier gemacht hat."
„Aber das erklärt die Verbindung!" Christine schnappt aufgeregt nach Luft. „Wenn Huntington und Leclerc alte Bekannte sind, hatte Leclerc es viel einfacher an Colver heranzukommen. Er hat ihn mit Sicherheit manipuliert, ihm große Fortschritte und die Entfaltung seiner Macht versprochen."
Gabriel stöhnt und wendet seinen Blick wieder in Richtung See. Ich sitze nur stumm da und schaue den beiden zu.
„Du verteidigst ihn doch nur, weil er gut aussieht", mault Gabriel, sodass ich grinsen muss. Da könnte was dran sein. Den Bonus hat Colver in jedem Fall.
„Das ist doch jetzt erstmal egal, oder nicht? Wir wissen, dass Colver jetzt zu Leclercs Anhängern gehört und ihm hilft Animi aufzuspüren bzw. gefügig zu machen. Aus welchen Überzeugungen auch immer", fasst Christine noch einmal zusammen. Gabriel nickt gedankenverloren.
„Aber was will Leclerc denn eigentlich?" Ich versuche noch immer aus diesem undurchsichtigen Charakter schlau zu werden.
„Er will die Ars ab Americae verbreiten, vermutlich aus Machtgier. Gleichzeitig zieht er damit ein Unternehmen groß, in dem nur Animi angestellt sind. Als Deckmantel vertreiben sie Strom und Internet, sowie viele dazugehörige Teile. Die Kräfte der Animi nutz er jedoch vornehmlich in Forschung und Entwicklung. Man munkelt, dass er dort nicht nur an der Verbesserung seiner Wirtschaftlichkeit arbeitet."
„Aber niemand weiß, was genau das bedeuten soll?", frage ich.
Beide schütteln im Einklang den Kopf.

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