Kapitel 8

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Plötzlich geht die Tür wieder auf. Anouk rauscht herein, dicht gefolgt von Professor Beauvilliers.
„Aurélie, würdest du mir bitte folgen?" Ich sitze noch immer auf dem Boden, stehe jetzt aber rasch auf. Ich werfe einen letzten unsicheren Blick zu Christine und Gabriel, die wie versteinert dasitzen. Anouk starrt an mir vorbei aus dem Fenster.
Professor Beauvilliers legt einen so großen Schritt an den Tag, dass ich die Tür einfach hinter mir zu fallen lasse, um ihn nicht zu verlieren.
Er führt mich durch ein paar verwinkelte Flure. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung mehr, wo wir uns befinden. Ich habe seit Ewigkeiten kein Fenster mehr gesehen. Vielleicht sind wir irgendwo im Keller...
Bei dem Gedanken wird mir ein wenig mulmig. Woher weiß ich denn eigentlich, dass ich ihm vertrauen kann?
Mittlerweile bin ich mir recht sicher, dass wir uns im Keller befinden, denn wir sind noch eine weitere Treppe hinabgestiegen und der schwere rote Teppich hat irgendwo aufgehört. Die Wände sind hier deutlich karger und vereinzelte Laternen an den Wänden sind die einzigen Lichtquellen.
Der Professor macht schließlich vor einer schweren Holztür halt. Er betätigt die metallene Klinke und lässt mir den Vortritt.
Wir befinden uns in einem runden Raum. Wir treten in die Mitte eines großen Kreises aus fünf kleinen Tischen. Noch ist alles dunkel.
Professor Beauvilliers schließt die Tür hinter uns, so dass auch das wenige Licht vom Flur ausgeschlossen wird. Gleich darauf leuchten die fünf Tische jedoch auf.
Ich erkenne die Symbole wieder. Sie sind deutlich größer. Es sind beinahe kleine Skulpturen.
Der Professor steht vor einer großen Glasplatte, auf der die Eisenspäne sich zu dem Magnetfeld angeordnet haben. Daneben befindet sich eine große Version des filigranen Wirbelsturmes. Er leuchtet wunderschön, obwohl ich nicht erkennen kann, wo das Licht überhaupt herkommt.
Direkt vor mir steht das Symbol der Animus animalis. Die beiden senkrechten Streben mit dem Wellenbogen scheinen über ihrem Sockel zu schweben.
Dann kommt der Tropfen. Es ist irgendwie eine mächtige Erscheinung, weil er so massiv wirkt. Die Flamme hingegen, jagt mir, durch die unglaublich detaillierte Darstellung, wieder einen Schauer über den Rücken.
Es herrscht noch immer nur schummriges Licht in diesem kleinen Kellergewölbe. Der Professor steht mit dem Rücken zu mir.
„Aurélie Dirksen", spricht er mich an und dreht sich dabei zu mir um. „Hiermit eröffnen wir deinen Eingangstest. Wir dachten, uns wäre bereits bewusst, welcher Sparte du angehörst, doch die jüngsten Ereignisse belehrten uns eines Besseren."
Seine Stimme klingt merkwürdig belegt. Ich werde die Gänsehaut, die sich auf meinem Körper ausgebreitet hat, nicht wieder los.
„Ich bitte dich nun, deine Konzentration der Reihe nach, all diesen Symbolen zu widmen. Erwarte keine Reaktion, du wirst merken, wann es genügt. Das Urteil erhältst du erst am Ende."
Er tritt einen Schritt zurück und verweilt vor der Tür. Ich schlucke und atme einmal tief durch. Ok, es ist egal, wie gruselig das alles ist. Ich werde einfach tun, was er von mir verlangt.
Ich widme meine Konzentration also zuerst dem Symbol der Flamme. Ich werde sie ordnungsgemäß von links nach rechts abgehen.
Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie die Metallfigur zu lodern beginnt. Ich spüre die Hitze und das Knistern. Ich spüre wieder das Brennen an meinem Kiefer. Gleichzeitig spüre ich aber auch eine Hitze, die von viel tiefer kommt. Sie geht von meinem Körper aus. Sie kommt von innen nach außen und sie ist angenehmer und stärker als das Brennen. Sie vertreibt es. Eine Hitzewelle durchfährt meinen Körper. Dann öffne ich die Augen wieder und sehe, dass das Flammensymbol erloschen ist. Es leuchtet nicht mehr. Ich spüre nichts mehr.
Also mache ich vorsichtig einen Schritt in Richtung Wassertropfen. Wieder schließe ich die Augen und sehe dabei zu, wie er sich erhebt. Er wird immer größer und ergießt sich schließlich über mir. Ich habe aber keine Angst zu ertrinken. Ich habe nicht einmal das Gefühl, nass zu werden. Ich bin vollkommen von Wasser umgeben und schwebe wie in leerem Raum. Ein angenehmes Gefühl durchströmt mich. Ich fühle mich wohl. Hier könnte ich Stunden verbringen.
Dann fließt das Wasser wieder ab. Ich steige aus dem Wasser empor, als würde ich schweben und fühle eine unbeschreibliche Macht.
Dann stehe ich wieder auf dem Boden und gehe zum Symbol der Telepathie hinüber. Ich schaue dabei zu, wie die Linien sich erheben und in Menschen übergehen. Es entsteht eine Diashow vor meinen Augen. Tausende Menschen, die ich kenne, aber auch welche, die ich noch nie zuvor gesehen habe, rauschen vor meinem inneren Auge vorbei. Ich sehe auch Tiere. Der Eisvogel verharrt einen Moment länger als alle anderen. Und dann ist da Colver Huntington. Er sieht makellos aus und scheint wie die Symbole von innen heraus zu leuchten. Doch während er beginnt, mir etwas zu übermitteln, verschwimmt seine Gestalt. Er wird zu formlosen Schemen, die nur noch vage an einen Menschen erinnern. Währenddessen durchströmt mich trotzdem ein Gefühl der Geborgenheit. Mir kann nichts passieren. In diesem Zustand bin ich absolut sicher. Ich sehe seinen Blick durch die kämpfenden Menschen um uns herum, höre seine Worte in meinem Kopf. Ein warmes Gefühl umgibt mich, dann befinde ich mich wieder in dem dämmrigen Kellerraum, der jetzt wieder dunkler wird, weil ein Symbol nach dem anderen erlischt.
Der Wirbelsturm hebt ab. Er wird größer, das Metall verschwindet. Er wird wahrhaftig zu Luft und nimmt mich in sich auf. Er trägt mich hinauf. Dort ist keine Decke mehr, dort ist nur noch der unendliche, blaue Himmel. Ich schwebe über allem. Ich bin so leicht, so unbeschwert, dass ich alles schaffen könnte. Ich glaube wirklich daran. Es ist ein Gefühl, das mir auf dem Boden so dringend fehlt.
Ich lächle, als ich die Augen wieder öffne und mich als letztes dem Magnetfeld zu wende. Das Magnetfeld erhebt sich und wird zu einem Stück Metall, das sich ununterbrochen verformt. Er nimmt die Gestalt verschiedener Waffen an, es wird eine Rüstung, es wird eine unscheinbare Verzierung auf einer Tür. Dann fließt es plötzlich in meine Hand. Ich bewege verschiedene metallische Gegenstände, fahrende Autos bleiben einfach stehen. Ich erschaffe einen Magneten, der einen anderen so stark abstößt, dass ich ein Auto zum Schweben bringe. Ich stehe wie ein Magier mit ausgestreckten Händen da und nutze die Kraft, die der Magnetismus mir beschert.
Dann verschwindet das Bild vor meinem Auge. Ich lande wieder in dem Kellerraum. Alles um mich herum ist dunkel. Ich weiß trotzdem, wo die Mitte des Kreises ist und stelle mich dorthin. Ich habe keine Ahnung, ob sich Professor Beauvilliers noch in meinem Rücken befindet.
Dann leuchten die Symbole plötzlich wieder auf. Alle gleichzeitig und erheben sich noch ein bisschen mehr. De Flamme und das Magnetfeld verharren am schnellsten wieder. Der Wassertropfen und der Wirbelsturm steigen ein wenig höher. Das Telepathie-Symbol steigt beinahe bis unter die Decke und leuchtet am hellsten.
Nach all den Gefühlen während der Zeremonie, schaue ich jetzt nur noch gebannt zu. Als mir das Ausmaß dessen, was ich hier sehe, bewusstwird, jagt es mir jedoch wieder einen Schauer über den Körper.
„Aurélie, folgst du mir bitte in mein Büro?", ertönt die Stimme des Professors neben der Tür. Ich nicke gedankenverloren und drehe mich zu ihm um. Als er die Tür öffnet, sinken alle Symbole wieder in ihre Ausgangsposition und erlöschen.

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