Kapitel 4

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Der Speisesaal ist beinahe so atemberaubend wie das Ambiente des Abschlussballes. Nur nehmen die Schüler hier jeden Tag drei Mahlzeiten ein. Wir sitzen an einer der langen Reihen aus dunklen Eichentischen mit den dazugehörigen Bänken. Die Essenausgabe ist ein unscheinbarer Tresen am Rande des Saales und das Essen kam uns einfach so entgegen, ohne, dass es jemand anfassen musste. Ich musste mich einmal schütteln, aber das Essen flog noch immer.
Vermutlich habe ich Glück gehabt, dass Christine sich nicht die Mühe gemacht hat, ihr Essen auch schwebender Weise zu unserem Platz zu befördern und es stattdessen auf herkömmliche Weise getragen hat.
Bei unserem Mittagessen, das aus lauter Köstlichkeiten besteht, stößt dann ein Junge mit dunkelblondem Wuschelkopf zu uns. Er begrüßt Christine mit einer Umarmung und setzt sich dann neben sie.
„Gab, das ist Aurélie. Aurélie, das ist Gabriel." Er nickt mir freundlich zu und ich erwidere den Gruß.
Dann wendet er sich wieder an Christine. „Du glaubst nicht, was ich herausgefunden habe!"
Christine sieht in zweifelnd an. „Er ist ein kleiner Nerd", erklärt sie mir dann.
„Bei dem Kampf vor vier Wochen war Leclerc hinter einer Anima her, die nicht auf unsere Schule geht."
Jetzt ist Christine hellwach. „Woher weißt du das?" Sie sieht ihn mit fragender Miene an.
„Ich war in Sandras Büro. Dort lag eine Akte auf dem Tisch. Keine Ahnung, warum sie ausgerechnet heute dort herumliegt, aber dort stand alles haarklein. Es handelt sich um eine unausgebildete Anima, die auf eine staatliche Schule geht und ihre Fähigkeiten zu verbergen versucht. Sie wird als sehr mächtig beschrieben, weil sie das die ganze Zeit geschafft hat, obwohl sie schon siebzehn ist. Leclerc hat ihr eine schlimme Brandwunde zugefügt. Sie konnte aber während des Kampfes entkommen. Ich weiß nicht, was danach mit ihr passiert ist. Da waren noch andere Seiten, aber ich wollte nicht zu lange bleiben, falls Sandra wiederkommen würde."
„Eine Brandwunde, sagst du?", fragt Christine. Als Gabriel nickt, sieht sie mich an. Ich schlucke schwer. Die Überreste der Wunde an meinem Kiefer sind nicht zu übersehen. Zwar war die Wunde nicht groß, aber ziemlich tief, weil die Flamme so heiß war. Deshalb ist es noch immer nicht vollständig verheilt.
„Bist du die Anima, die Leclerc gesucht hat?", fragt Christine mich schließlich.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß noch immer nicht, was er wollte, aber seinen Namen kenne ich..."
„Ich dachte, du kämst aus dem Ausland und wechselst nur die Schule", meint Christine, „das passiert häufiger, aber du hast noch gar keine Ahnung von alle dem?" Sie macht eine allumfassende Geste.
Ich schüttle den Kopf.
„Du kannst deine Fähigkeiten noch nicht kontrollieren?", fragt Gabriel. Ich schüttle wieder den Kopf. „Wow, bis zu meinem 17. Geburtstag wäre ich sicher zwanzig Mal durch die blöde Tür gegangen."
Das mit der Tür hatte mir noch niemand erklärt.
„Und was ist passiert?", fragt Christine dann, die noch immer leicht abwesend auf die Wunde starrt.
„Chrissie!", meint Gabriel, „Vielleicht ist ihr das unangenehm?"
Sie zuckt zusammen und wendet den Blick ab. „Tut mir leid, es ist nur... Wir haben nur die Hälfe mitbekommen. Am Tag danach fiel der Unterricht aus, weil einige der Lehrer bei dem Kampf verletzt wurden und wir bekamen nur die nötigsten Informationen. Deshalb haben wir uns selbst auf die Suche nach Infos gemacht."
„Ja, ist schon ok. Ihr wisst etwas über diesen Leclerc, oder?" Sie nicken im Einklang. „Dann erzähle ich euch, was an dem Abend passiert ist und ihr erklärt mir, was es mit diesem Typen auf sich hat."
„Ok" stimmt Gabriel zu, „Aber lass uns das nach dem Essen machen." Er nickt in Richtung der jüngeren Schüler am Nachbartisch.
„Ist hier eigentlich immer so wenig los oder haben die schon alle vor uns gegessen?", frage ich, weil der Speisesaal ganz schön groß ist, dafür das gerade nur ein halbes Dutzend Schüler darinsitzen.
„Ne, die meisten sind bei ihren Eltern zuhause oder irgendwo im Urlaub. Das Semester geht erst in fünf Wochen wieder los."
„Oh" Und sie haben mich trotzdem schon hergeschickt, weil dieser Leclerc so gefährlich ist? Ich frage lieber nicht, warum Christine und Gabriel ihre Ferien im Internat verbringen müssen. Das hat sicher nichts mit spaßigen Erinnerungen zu tun.

ANIMIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt