„Selina, Selina, komm, ich glaube, Papa geht es nicht gut. Er hat auf meinen Kuss garnicht reagiert. Außerdem fühlt er sich ganz heiß an und ist ganz nass im Gesicht." Eliza zerrte Selina am Arm zu Mr. Glendish's Kajüte. Der hatte inzwischen hohes Fieber und war kaum noch bei Bewusstsein. Selina schickte Eliza den Arzt holen. Sie kümmerte sich inzwischen um Mr. Glendish und wischte ihm den Schweiß ab. Sie eilte sich, um ihm etwas zu trinken zu holen. Er schien durch das Fieber ziemlich ausgetrocknet zu sein. Inzwischen traf der Arzt ein und sie ließ ihn mit dem Patienten allein. Sie kehrte zu Eliza zurück, die sich sofort schluchzend in Selina's Arme warf. „Ist Papa sehr krank? Muss er sterben?" Nachdenklich strich sie dem Kind über die Haare. „Ich weiß es nicht, Eliza. Aber der Arzt ist nun bei ihm und dein Vater ist stark. Uns bleibt erst einmal nichts zu tun als zu warten und zu beten." Selina seufzte. Sie hätte gerne trösterende Worte gefunden.
An diesem Abend hatte es länger gedauert, bis Eliza endlich eingeschlafen war. Danach ging Selina an Deck und suchte Kapitän Highflower. „Haben sie schon gehört, wie es Mr. Glendish geht? Was hat der Arzt gesagt?", fragte sie mit besorgtem Unterton. „Es geht ihm nicht gut, der Doktor macht sich Sorgen wegen seines Zustandes. Aber wenn sie genaueres wissen wollen, dann fragen sie Dr. Evans besser selbst.", antwortete dieser nur knapp. „Und wo finde ich Dr. Evans jetzt?", fragte sie nach. „Wahrscheinlich bei dem Patienten.", war die kurze Antwort. Also ging Selina zurück unter Deck und blieb zunächst unschlüssig vor der Kajütentür stehen. Sie hatte Angst vor schlechten Nachrichten. Wie sollte sie das nur dann Eliza erklären, wenn ihr Vater starb. Und wer würde sie dann an Bord und auf der weiteren Reise beschützen? Umkehren ging auch nicht so einfach, dafür waren sie schon zu weit von der Heimat weg. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf bevor sie sich schließlich überwinden konnte, an die Tür zu klopfen. „Herein.", hörte man eine dumpfe Stimme von innen. Sie öffnete leise die Tür und trat in ein dämmrigen Raum, der lediglich von einer Kerze erhellt wurde. Der Arzt stand an Mr. Glendish's Lager und wechselte den Umschlag auf seiner Stirn. „Dr. Evans, wie geht es ihm und wie kann ich helfen?" „Ah, Miss Linnard, gut dass sie da sind. Ich könnte tatsächlich etwas Unterstützung gebrauchen. Sie könnten mir bei den Wadenumschlägen helfen und außerdem brauche ich noch mehr Laudanum." Zwei Stunden später saß sie allein neben der Koje von Mr. Glendish. Der Arzt hatte sich schlafen gelegt und es war weitgehend ruhig an Bord. Sie wechselte regelmäßig die Umschläge, wie es ihr der Arzt gezeigt hatte und gab ihm zu trinken. Der Arzt hatte ihr gesagt, dass das Fieber unbedingt sinken müsse, es würde seinen Körper immer weiter schwächen und er trockne sonst innerlich aus. In den kurzen Pausen saß sie auf einem Stuhl und beobachtete den Patient. „Kämpfen Sie!, sagte sie leise, „Sie müssen kämpfen! Ihre Tochter braucht sie." Sie hielt kurz inne und flüsterte dann: „Und ich brauche sie auch."
Ein Geräusch ließ sie hochschrecken. War sie etwa eingeschlafen? Die Kerze war nahezu runtergebrannt, was eindeutig dafür sprach, dass sie geschlafen hatte. Schuldbewusst sprang sie auf und sah nach Mr. Glendish. Er atmete noch, Gottseidank. Er fühlte sich auch nicht mehr so heiss an. Eilig suchte sie nach einer neuen Kerze, um wieder mehr Licht zu haben. Nachdem sie die neue Kerze entzündet hatte, wechselte sie die Umschläge. Als sie seinen Umschlag auf seiner Stirn wechselte und dabei eine verschwitzte Strähne aus seiner Stirn strich, öffnete er die Augen. „Selina.", sagte er kaum hörbar. Einen Augenblick später trat auch der Arzt ein. Sie lief ihm aufgeregt entgegen. „Dr. Evans, er ist aufgewacht und hat zum ersten Mal wieder gesprochen." Der Arzt eilte zum Krankenbett und untersuchte den Patienten. Schließlich drehte er sich wieder zu Selina um, die sich nervös wartend nicht von der Stelle bewegt hatte. Mit einem erleichterten Lächeln sagt Dr. Evans: „Ich glaube, der Patient ist über den Berg. Das Fieber ist merklich gesunken. Gute Arbeit, Miss Linnard." Er nickte ihr anerkennend zu. Plötzlich sah Selina erschrocken zur Tür: „Ach du lieber Gott, Eliza! Ich habe das Mädchen völlig vergessen." Zu dem Arzt gewandt fuhr sie fort: „Sie wird ihren Vater sehen wollen. Darf ich sie gleich zu ihm bringen?" Der Arzt nickte: „Aber bitte nur kurz, der Patient braucht noch viel Ruhe. Sie nickte und eilte aus dem Raum. Eine Stunde später erschien sie wieder mit Eliza an der Hand. Ganz leise gingen sie zu seiner Koje und Eliza drückte liebevoll einen Kuss auf die Stirn ihres Vaters. Kurz darauf schlug er wieder die Augen auf und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Eliza, mein Schatz.", flüsterte er. Eliza kuschelte sich neben ihm in seine Koje und flüsterte in sein Ohr: „Ich habe so Angst gehabt. Aber Selina hat die ganze Nacht zusammen mit dem Doktor auf dich aufgepasst." Selina hatte schon beinahe den Raum wieder verlassen, da hörte sie hinter sich die schwache Stimme von Mr. Glendish: „Miss Linnard!" Selina dreht sich um und sah ihn fragend an: „Ja?" „Danke! Ich stehe tief in ihrer Schuld.", sagte Mr. Glendish leise. Sie nickte verlegen und kehrte in ihre Kajüte zurück. Dort angekommen, legte sie sich in ihre Koje und schlief erschöpft ein.
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Vertrauen und Hoffnung
Historical FictionNach dem Tod ihrer Mutter gelingt es der jungen Selina Linnard ihrem Schicksal zu entkommen und bei dem wohlhabenden Kaufmann Julian Glendish als Gouvernante für dessen kleine Tochter neu anzufangen. Er nimmt Selina und seine Tochter an Bord seines...