Drei Tage später lief die Seawind in den Hafen von Gascona ein, ein Knotenpunkt wichtiger Handelsrouten und ein wichtiger Warenumschlagsplatz. Mr. Glendish hatte sich zwar von seiner schweren Krankheit wieder etwas erholt, doch fühlte er sich noch etwas schwach auf den Beinen. Daher empfing er seine Geschäftspartner an Bord und führte seine Verhandlungen vom Schiff aus. Selina liess währenddessen sich zusammen mit Eliza von Thomas die Stadt zeigen, damit sie bei den Verhandlungen nicht im Weg waren. Thomas fühlte sich in der Rolle des Fremdenführers sichtlich wohl und es war eine willkommene Abwechslung vom Alltag an Bord. Selina und Eliza lauschten ihm interessiert, wenn er Geschichten über Land und Leute erzählte. So verbrachten sie einen vergnüglichen Tag zusammen. Am Nachmittag mahnte Thomas dann zu Rückkehr. Die kleine Eliza war so erschöpft von dem Ausflug, dass Thomas sie zurücktragen musste. Selina und Thomas waren in ein angeregtes Gespräch vertieft als sie von einem Mann angerempelt wurden. Während Thomas den wenig einsichtigen Mann zur Rede stellte, sah Selina in der Menge plötzlich das Gesicht eines Mannes und sie erstarrte. „Miss Linnard, was ist mit ihnen?, fragte Thomas besorgt, „Sie sind ja leichenblass, was ist ihnen geschehen? Fühlen Sie sich nicht wohl?" „Ich....ich weiß nicht.", stammelte sie und zitterte am ganzen Körper. „Lassen sie uns bitte schnell zum Schiff zurückkehren.", bat sie ängstlich. Thomas nickte. Er blieb für den Rest des Weges eng an ihrer Seite. So erschrocken und nervös hatte er Selina noch nie erlebt. Doch er wagte es nicht weitere Fragen zu stellen. Wieder an Bord trug er Eliza in ihre Kajüte wo Selina sie schließlich zu Bett brachte. Den Rest des Tages verließ Selina ihre Kajüte nicht mehr.
Sie zuckte fürchterlich zusammen als es später abends an ihrer Tür klopfte. Mr. Glendish öffnete vorsichtig. Er sah, dass Selina immer noch blass war und nervös. „Wie geht es ihnen jetzt, Miss Linnard?", fragte er vorsichtig und leicht besorgt. „Ich habe Angst, Sir.", antwortete sie leise. „Thomas hat mir von dem Zwischenfall heute Nachmittag in der Stadt berichtet. Wollen sie mir erzählen, was sie dort so verstörendes gesehen haben?", fragt Mr. Glendish. Sein Stimme klang besorgt und fürsorglich. „Ich glaube, meine Vergangenheit, die ich glaubte endlich hinter mir gelassen zu haben, hat mich heute doch wieder eingeholt. Ich habe das Gesicht eines Mannes aus meiner dunklen Vergangenheit gesehen." Es lag immer noch ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. „Sind sie sich sicher? Vielleicht hat ihnen auch nur ihre Wahrnehmung einen Streich gespielt und sie haben in Wirklichkeit das Gesicht eines anderen Mannes gesehen.", versuchte Mr. Glendish sie zu beruhigen. Doch sie schüttelte energisch ihren gesenkten Kopf: „Nein, dieses Gesicht werde ich meinen Lebtag nicht mehr vergessen und immer wiedererkennen." „Was hat dieser Mann ihnen denn so schreckliches angetan, dass er ihnen solch eine Angst macht?, fragte er nach. Sie zögerte, sollte sie ihm die dunklen Geheimnisse ihrer Vergangenheit anvertrauen? Konnte sie ihm denn wirklich trauen? Sein Verhalten ihr gegenüber hatte ihr in den letzten Wochen Rätsel aufgegeben. Doch eine Stimme tief in ihr sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte. So begann sie die tragische Lebensgeschichte ihrer Mutter, die ja auch zum Teil ihre eigene war, zu erzählen. Sie war verwundert, dass Mr. Glendish ein solch geduldiger und verständiger Zuhörer war. Er hörte sich alles interessiert bis zum Ende an und unterbrach sie nicht. Lediglich als Selina während ihres Berichts ein paar Tränen über ihre Wangen liefen, nahm er wortlos ihre Hand in die Seine. Sein Blick sagte ihr „Hab keine Angst, denn nun stehst du unter meinem Schutz." Nachdem sie geendet hatte, sah sie ihn mit ihren traurigen Augen an. Er zog hörbar die Luft durch die Nase, dann sagte er: „Es tut mir leid, dass sie in ihren jungen Jahren schon soviel Arges erleben und erleiden mussten. Ich bewunderte ihren Mut, das alles hinter sich gelassen zu haben und neu anzufangen. Andere wären an diesem Schicksal zerbrochen." Er sah sie an und ihre Blicke trafen sich. Es war ihm als öffnete sich kurz ein Fenster in die verborgenen Tiefen ihrer Seele. Sie schien ihm in diesem Augenblick so verwundbar und dennoch war sie in seinen Augen eine bewundernswerte junge Frau, die ihr Schicksal selber in die Hand nahm. „Ich danke ihnen für ihr Vertrauen, dessen ich mich hoffentlich noch würdig erweisen kann. Haben sie keine Angst, hier auf dem Schiff wird ihnen nichts passieren. Ich und all diese Männer hier werden sie beschützen." Sie nickte dankbar und ein wenig erleichtert. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht als sie bemerkte, dass er immer noch ihre Hand hielt. Er war wohl ihrem Blick gefolgt, denn er ließ zu ihrem Bedauern in diesem Augenblick ihre Hand los. Schließlich erhob sich Mr. Glendish. „Es ist besser, sie verlassen das Schiff nicht mehr während unseres restlichen Aufenthaltes" Sie nickte nur. Er wollte sich schon zum Gehen abwenden, doch irgend etwas schien ihn noch zu beschäftigen. „Julian.", murmelt er. „Verzeihen sie, Sir, was sagten sie?" „Bitte sprechen sie mich nicht mehr mit Sir oder einer anderen förmlichen Anrede an. Es reicht vollkommen, wenn sie mich einfach nur mit Mr. Glendish ansprechen." Wieder zögerte er und dachte kurz nach. Dann ergänzte er leise: „Noch lieber wäre es mir allerdings, wenn sie mich außerhalb offizieller Anlässe einfach nur Julian nennen würden." Er warf ihr noch einen undefinierbaren Blick zu und eilte dann hinaus. Wieder mal hatte Mr. Glendish mit seinem Verhalten Selina verwirrt zurückgelassen. Vor allem war sie unsicher, was sie von seinem letzten Satz halten sollte. Der Mann und sein Verhalten ihr gegen über blieben unberechenbar.
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Vertrauen und Hoffnung
Historical FictionNach dem Tod ihrer Mutter gelingt es der jungen Selina Linnard ihrem Schicksal zu entkommen und bei dem wohlhabenden Kaufmann Julian Glendish als Gouvernante für dessen kleine Tochter neu anzufangen. Er nimmt Selina und seine Tochter an Bord seines...