Doras Rat

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Irgendwann, es musste ungefähr um Sonnenaufgang herum gewesen sein, fiel Bilbo schließlich in einen traumlosen, dunklen Schlaf. Doch ihm war nicht viel Schlaf gegönnt, denn plötzlich klopfte es tatsächlich an der Tür. Und obwohl er nicht genau wusste, warum, wusste Bilbo dieses Mal sicher, dass das kein Traum war. Er quälte sich also aus dem Bett und betrachtete sich kurz im Spiegel. Bilbos Augen waren angeschwollen von den vielen Tränen, die er letzte Nacht vergossen hatte. Sein Haar war zerzaust und er trug noch seinen Morgenmantel. Doch ihm blieb keine Zeit, sich nochmal umzuziehen, denn es klopfte ein weiteres Mal an der Tür. Bilbo fluchte leise. Wo waren die Zeiten geblieben, in denen sich Hobbits vor ihren Besuchen ankündigten?

Er lief aus seinem Schlafzimmer und steuerte direkt auf die Haustür zu. Goldenes Sonnenlicht strahlte durch die beiden kleinen Fenster in der Diele und blendete Bilbo etwas. Der Hobbit entriegelte die Tür und öffnete sie. ,,Guten Morgen, Bilbo!", rief Dora Beutlin überschwänglich. Bilbo musterte die Hobbitdame etwas enttäuscht. Für einen Moment hatte er tatsächlich geglaubt, dass er nun wieder Thorin gegenüberstände. Aber dies hier war kein Traum, es war die Realität. Und auch wenn Bilbo es immer noch nicht richtig fassen konnte, in der Realität war Thorin Eichenschild tot.

Doch nun stand Dora Beutlin vor ihm, eine Cousine zweiten Grades. Die Hobbitfrau war 41 Jahre alt. Ihr lockiges Haupthaar war lang und dunkelbraun, genauso wie das Haar auf ihren Füßen. Sie trug ein hübsches Kleid, einen großen Strohhut mit Blumen darauf und einen Rucksack auf den Schultern. Mit der rechten Hand hielt sie einen Wanderstock aus hellem Holz. Dora gehörte zu Bilbos engeren Freunden. Sie lebte in Froschmoorstätten und Bilbo hatte sie schon mal bei einer Wanderung besucht. Aber Dora Beutlin war nicht der Typ für Wanderungen.

,,Was machst du denn hier?", fragte Bilbo verwirrt und runzelte die Stirn. Dora lächelte strahlend und umarmte ihren Vettern überschwänglich. ,,Du hast nicht mehr auf meine Briefe geantwortet!", sagte sie dann vorwurfsvoll. ,,Oh", entfuhr es ihm. Er hatte tatsächlich vergessen, seiner Cousine zu antworten. Das Briefeschreiben voller langer und sicherlich gut gemeinter Ratschläge war Doras liebstes Hobby und wahrscheinlich auch ihr einziges. In den letzten Wochen hatte Bilbo ungefähr fünf Briefe von ihr bekommen, die mindestens aus fünf vollgeschriebenen Seiten bestanden hatten. Der Hobbit hatte Doras Briefe in seinem Schreibtisch verstaut, wo sie nun verstaubten. ,,Das habe ich wohl vergessen", sagte er schließlich müde. ,,in letzter Zeit war so viel los, Dora."

,,Ja, also ich habe mir Sorgen gemacht", fuhr Dora munter fort, denn sie war nicht nur in ihren Briefen eine Quasselstrippe. ,,Und dann habe ich mir gedacht: Warum besuchst du den guten alten Bilbo nicht mal? Er hat doch so ein schönes Smial und du warst so lange nicht mehr in Hobbingen, Dora! Ach und siehe da, ich bin pünktlich gekommen!" ,,Pünktlich?", fragte Bilbo und unterdrückte ein Gähnen. ,,Für was denn?" ,,Na, fürs zweite Frühstück", strahlte Dora. ,,Du hast hoffentlich schon etwas vorbereitet?"

Natürlich hatte Bilbo gar nichts vorbereitet und als Dora das bemerkte hatte, kümmerte sie sich erstmal liebevoll um ihren Vettern. Die Hobbitdame ließ ihm ein Bad ein, machte sein Bett, räumte etwas auf und bereitete schließlich ein köstliches Frühstück vor. Als sie das Badezimmer verlassen hatte, zog Bilbo seinen Morgenmantel aus und stieg in die Wanne. Dora hatte ihm ein Schaumbad gemacht. Der Hobbit schmunzelte, denn er fühlte sich an seine Mutter erinnert. Belladonna hatte ihm auch immer Schaumbäder gemacht. Manchmal wünschte Bilbo sich, dass seine Eltern noch leben würden. Bungo und Belladonna waren so liebevolle Hobbits gewesen. Aber sie waren schon tot, schon lange. Bilbo seufzte traurig. Er fühlte sich oft so einsam.

Nachdem Bilbo das Bad beendet hatte, zog er sich an. Dora hatte ihm doch tatsächlich Kleidung herausgesucht! Eine hellbraune Hose, die nur bis zu den Knien reichte, ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und Hosenträger. ,,Da bist du ja", sagte Dora lächelnd, als er die Küche betrat. Bilbo staunte nicht schlecht. Seine Cousine hatte ihm ein Festmahl gezaubert. Es gab frisches Brot, unzählige Käse- und Wurstsorten, Orangenmarmelade, roten Früchtetee, frischen Kaffee, gebratenen Speck, Spiegelei, Rührei, Pilzomelett, süße Milchbrötchen und Quark. ,,Naja, neun Uhr ist schon fast rum, aber es kann ja trotzdem ein zweites Frühstück sein", meinte Dora lächelnd, goss Bilbo und sich Kaffee ein und setzte sich.

Bilbo setzte sich ebenfalls und gestand mit einem kleinen Lächeln:,, Ich hatte nicht mal ein erstes Frühstück".

Dora sah von dem Pilzomelett auf und musterte ihn erschrocken:,, Nicht? Oh, Bilbo. Bist du denn von allen guten Valar verlassen? Man kann doch nicht einfach eine Mahlzeit auslassen! Erstes Frühstück um sieben Uhr, zweites Frühstück um neun Uhr, Elf-Uhr-Imbiss um elf Uhr, Mittagessen um dreizehn Uhr, Nachmittagstee um fünfzehn Uhr, Abendessen um achtzehn Uhr und Nachtmahl um einundzwanzig Uhr! Das weiß doch jedes kleine Hobbitkind! Nun, du bist auch schon ganz abgemagert! Ist alles in Ordnung, mein Lieber?"

Er versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei und war ganz gerührt von Doras Besorgnis um ihn. Dann nickte die Hobbitdame strahlend und begann Bilbo den neuesten Klatsch zu erzählen. Über die Sackheim-Beutlins hatte sie gehört, dass diese bald die neuen Eigentümer von Beutelsend waren. ,,Unsinn", sagte Bilbo bloß und winkte ab. Er war gerade viel zu konzentriert auf sein Pilzomelett, als dass er sich über seine dreisten Verwandten hätte ärgern können. Wie alle Hobbits liebte er Pilze! ,,Puh, ich dachte schon, dass du ausziehst", entgegnete Dora beruhigt und fuhr munter weiter fort mit ihrem Klatsch. Das Frühstück war fantastisch und während des Abwaschs, den die beiden gemeinsam machten, versicherte Dora ihm:,, Keine Sorge, Bilbo, bis zum Elf-Uhr-Imbiss bist du mich los."

Aber das stimmte nicht ganz. Dora blieb während des Elf-Uhr-Imbiss, bei dem sie Sandwiches verzerrten. Sie war auch noch beim Mittagessen da, als Tüften (Kartoffeln), Schnitzel und Pilze in brauner Sahnesoße serviert wurden. Während des Nachmittagstees setzten sich die beiden Hobbits Bilbos schönen Garten. Hamfast war heute ausnahmsweise mal nicht da. Er und Bell hatten sich wieder vertragen und verbrachten heute den Tag gemeinsam. Dora und Bilbo tranken Kaffee, aßen Kuchen und rauchten Pfeife.

,,Du brauchst eine Frau, Bilbo", meinte Dora plötzlich. Der Hobbit verschluckte sich fast an seinem Kaffee. ,,Wie bitte?", keuchte er ungläubig. ,,Warum glaubst du, dass ich eine Frau brauche?"

,,Du versumpfst, Bilbo", erwiderte Dora ernst. ,,Du gehst nicht mehr nach draußen, triffst dich nicht mehr mit anderen. Ja, nicht mal auf meine Briefe antwortest du! Du hattest schon immer diese Tendenz zum Versumpfen. Du hast immer jemanden an deiner Seite gebraucht. Erst waren das deine Eltern, dann dieser Zauberer mit dem Feuerwerk und danach dieser ... Zwerg.",,Gandalf und Thorin", warf Bilbo ein. ,,Was?", fragte Dora irritiert.

,,Sie heißen Gandalf und Thorin", meinte Bilbo ruhig und trank einen Schluck Kaffee. ,,Aha", entgegnete Dora, immer noch etwas verwirrt. ,,Ich kann nicht sagen, dass ich dieses Abenteuer von dir gut fand, Bilbo. Aber es hat dir geholfen und das freut mich. Doch nun bist du wieder im Auenland und du versumpfst und deswegen brauchst du eine Frau!"

Bilbo wehrte sich lange gegen Doras Rat. Er wollte keine Frau und er versumpfte auch nicht! Nein, er war einfach nur in Trauer. In Trauer um Thorin Eichenschild, seinen Freund, seine große Liebe. Aber das konnte hier anscheinend niemand verstehen! Weder die Sackheim-Beutlins noch Dora. Seine Cousine versuchte ihn noch bis zum Abendessen zu überzeugen. Eine Frau, mit der er eine Familie gründen könnte, würde ihn ablenken und vielleicht sogar glücklich machen. Dabei war es ganz egal, dass sie selbst weder verheiratet noch Kinder hatte!

Aber Bilbo sträubte sich und so ließ Dora das Thema schließlich. Seine Cousine blieb noch lange. Zwei Wochen, nachdem sie angereist war, ging Bilbo mit Hamfast und Bell in ein Gasthaus. Die beiden hatten ihn überredet, weil er sie ja wieder zusammengebracht hatte. Schließlich hatte Bilbo zugestimmt, da er Dora endgültig beweisen wollte, dass er nicht versumpfte.

Sie gingen in den ,Efeubusch' in Wasserau, Hamfasts Lieblingsgasthaus. An diesem Abend war es recht voll und Bilbo hatte eigentlich keine Lust auf Trubel, aber er hatte es den beiden versprochen. Hamfast ergatterte den letzten freien Tisch und bestellte Pilzsuppe und drei große Krüge Bier. Dora war in Beutelsend geblieben. Plötzlich kam eine junge Hobbitfrau zu ihnen an den Tisch. Bilbo hielt sie für eine Freundin von Bell und beachtete sie gar nicht.

Aber die Hobbitfrau sprach nicht Bell, sondern ihn an.,,Sind Sie Bilbo Beutlin?", fragte sie lächelnd. ,,Ja", erwiderteBilbo verwundert. ,,Warum?" ,,Ich glaube, wir sind Seelenverwandte!",schoss es aus der Frau heraus

Der Schatten des Ringes| BagginshieldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt