2 Verona

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Die Sonne scheint durch das offene Fenster und blendet Marco mitten in sein braungebranntes Gesicht. Er verkrümelt sich noch einmal unter die Decke und begreift nur ganz langsam, wo er eigentlich ist und weshalb. Der Gedanke an seine Verlegerin Frau Zürcher schiesst ihm in den Kopf, wodurch er schlagartig adrenalingesättigt wach liegt und kalten Schweiss auf der Haut verspürt. Frau Kathrin Zürcher! Der erste Gedanke an einem Morgen in Verona müsste unbedingt einer liebenswerteren Person gelten. Marco wälzt sich aus dem Bett, tappt ins Badezimmer und duscht ausgiebig. Danach setzt er sich nackt an den kleinen Tisch im Zimmer, lässt seine Haare an der Sonne trocknen und nimmt das Telefonino zur Hand.
„Sie haben echt Nerven, sich erst jetzt zu melden. Vor Stunden schon habe ich erfahren, dass ihr Auto offenbar gestohlen wurde und Sie unauffindbar sind. Wo zum Teufel ist mein Buch?" ertönt die schrille und autoritäre Stimme seiner Verlegerin.
„Guten Morgen Frau Zürcher. Ich habe Sie auch vermisst", säuselt Marco zwischen zwei Schlucken Kaffee.
„Seien Sie nicht albern. Was zum Henker ist los?"
„Nun, mein Auto wurde gestohlen. Die Versicherung hat mir ein Hotelzimmer besorgt und nun trinke ich hier Kaffee in Verona. Die gute Nachricht ist: Meine Papiere und Karten habe ich alle bei mir. Der Laptop mit dem neuen Skript allerdings, der ist weg, das Notizbuch auch." Unwillkürlich zieht Marco den Kopf ein und hält das Mobiltelefon weiter vom Kopf weg.
Trotzdem trifft ihn der Zürcher Sturm der Verdammnis voll ins Gesicht. Seine Verlegerin ist ausser sich vor Wut und beordert ihn augenblicklich nach Zürich zurück.
„Ich schlage vor, ich bleibe noch hier und gehe ersten Spuren meines Fahrzeuges nach, Frau Zürcher."
„Wie wollen Sie das tun? Haben Sie etwa Reifenspuren gefunden?"
Marco verdreht die Augen und sagt ruhig: „Nein, liebe Frau Zürcher, aber ich habe mit Zeugen gesprochen und die Spur weist hier nach Verona. Ich kann heute neue Leute treffen, die vielleicht etwas mehr über den Verbleib meines Fahrzeuges wissen. Ich habe mich entschieden, zuerst mal selbst nach dem Auto zu suchen. Von der hiesigen Polizei erwarte ich keine Hilfe. Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, sie steckt mit drin. Wer weiss, vielleicht ergibt sich aus den Erlebnissen ja Stoff für ein weiteres Buch."
Kathrin Zürcher lehnt sich in ihren teuren Ledersessel im Büro beim Bürkliplaz in Zürich. Sie denkt kurz nach, hört aufmerksam zu und meint schliesslich: „Also gut, lieber Stalder. Ihr neues Buch ist zwar noch nicht fertig und Sie sprechen schon von Stoff für ein weiteres. Ich nehme Sie beim Wort. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Wenn Sie binnen dreier Tage keine Neuigkeiten haben, werde ich Sie zurückholen lassen. Sie wissen, dass Sie mir ein Manuskript schulden. Und das schon seit Wochen. Sie sind ein Träumer, der leider Gottes sehr gut schreiben kann und mir eine Menge Geld einbringt."
Die Verbindung bricht ohne weitere Bemerkung ab. Marco grinst, geht immer noch nackt auf den Balkon und zündet sich eine Gauloise Bleue an, ganz wie in früheren Jahren. Er geht in Gedanken noch einmal alle Aussagen der Zeugen von gestern durch. Der Deutsche sagt, es wäre ein Pärchen gewesen. Ein Geschäftsmann aus Mailand erzählte, der Wagen sei mit hohem Tempo davongebraust. Der Gitarre spielende Jugendliche aus Hamburg sagte, er habe etwa zwanzig Minuten später einen gleichen Wagen auf der Gegenspur in Richtung Verona fahren sehen. Diese Aussage gibt Marco die Hoffnung, hier eine weitere Spur zu finden. Vom Tankwart an der Raststätte hat er eine Adresse erhalten, wo man Gebrauchtwagen günstig kaufen kann. Und diese Adresse will Marco an diesem sonnigen Morgen im Herbst aufsuchen.
Er zieht sich an. Der Wind hat aufgefrischt, sodass er zu seinem Shirt unbedingt noch eine Jacke braucht. Da er aber ausser der Kreditkarte nichts mehr besitzt, ist erst mal Shopping angesagt. Marco verlässt das Hotel und schlendert in Richtung Via Giuseppe Mazzini, in der Fussgängerzone von Verona. Er kauft sich eine Lederjacke, zwei Hemden, einige T-Shirts, eine Jeans und Unterwäsche. Zudem eine neue Tasche, in welcher er alle seine neuen Kleider verstauen kann. Danach kauft er sich Toilettenartikel, ein Handtuch und einen neuen Rasierer. Derart frisch ausgestattet trottet er langsam in Richtung seines Hotels. Für einen kurzen Moment gibt er sich dem Gedanken hin, seine Verlegerin könnte für die Sachen aufkommen. Die Idee hält nicht lange an.

Die Reise - LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt