1 Brugg

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Der rot-weisse VW California T6 Ocean Red steht fertig beladen auf dem kleinen Parkplatz vor dem Haus. Trinkwasser, Kühlwasser und Diesel sind aufgefüllt, der Reifendruck stimmt. Ein letztes Mal geht Marco durch sein Haus, kontrolliert Fenster, Licht und die Sauberkeit des Eigenheims in Brugg. Dann dreht er zufrieden den Schlüssel, prüft, ob die Haustüre auch wirklich geschlossen ist und steigt die Treppenstufen hinab. Marco Stalder hat Ferien. Darauf freut er sich schon lange. Vor wenigen Jahren ging seine langjährige Beziehung zu Bruch. Er hat es nicht kommen sehen, alles war bisher gut gelaufen. Er und seine grosse Liebe, Salome Muggli, sie führten die perfekte Beziehung. Mit der Juristin konnte er einfach alles bereden. Sie reisten viel und hatten grosse Pläne für die Zukunft. Dann auf einmal war sie weg. Einfach so. Sie hatte sich in einen anderen verliebt und ist ausgezogen. Er blieb zurück und kann seither nicht mehr schreiben. Dabei hat er bisher immer sehr erfolgreich geschrieben.
Marco ist gross, schlank und kräftig gebaut. Sein dunkelbraunes Haar ist kurz geschnitten, seine braunen Augen strahlen Unternehmungsgeist aus. Er ist Schriftsteller und sein aktueller Roman müsste schon lange fertig sein. Kathrin Zürcher, seine Verlegerin, liegt ihm damit schon lange in den Ohren. Er aber hat sie davon überzeugen können, er könne Ferien in Italien seine aktuelle Schreibblockade lösen. Der Laptop liegt fein säuberlich verstaut im Wandschrank der Campingeinrichtung seines Wagens. Das Notizbuch, das er von Hand führt, hat er in der Schublade unter dem Rücksitz verstaut. So eine Manie von ihm, die Handnotizen und den Laptop nie am selben Ort aufzubewahren. Marco freut sich auf die bevorstehende Reise, deren Ziel er noch nicht kennt. Die Reise ist das Ziel, nicht ein ferner Ort.
Wieder denkt er an seine Partnerin Salome, also nun seine Ex. Damit hat er sich noch nicht abgefunden. Salome hätte die Reise geliebt. Sie beide waren auch schon in einem VW-Bus unterwegs und sie hatten damals eine sehr verliebte Zeit, trotz schlechten Wetters. Sie beide wollten sich damals so einen Hippie-Camper zulegen, hatten aber das Geld dazu nicht. Nach der Trennung hat sich Marco aus purem Trotz diesen eigenen Bus gekauft, grösstenteils mit einem Vorschuss seines Verlages. Er konnte Frau Zürcher ebenfalls davon überzeugen, dass dieser Bus ihm zu mehr Freiheit und mehr Inspiration verhelfen wird. Eine Möglichkeit, die Ex endgültig zu vergessen. Die geplante Reise nach Italien soll auch eine Reise weg von Salome werden, aber das hat er niemandem erzählt.
Marco steigt in den Bus, macht es sich auf dem hellgrauen Fahrersitz bequem und dreht den Schlüssel. Der kleine Diesel springt sofort an, sanft gleitet das schwere Gefährt auf die Strasse. Der Wagen riecht noch nach neuem Leder und Kunststoff. Ganz anders als der uralte gemietete hellblaue Bulli aus den Siebzigern, mit dem er damals mit Salome nach Kroatien gefahren ist.
Marco will nach Italien. Mit diesem wunderbaren Land im Süden verbindet ihn viel. Seit seiner Fernfahrerzeit kann er genügend gut Italienisch, dass er sich mit den Menschen unterhalten kann. Er nennt sich selbst „Heimwehitaliener". Die Kultur, das Essen, die Lebenseinstellung der Italiener, all das gefällt ihm. Und natürlich der Wein - seit Salome weg ist vor allem der Wein. Zwei Dinge würde er niemals nach Italien mitnehmen: Pasta und Wein. Seine Küche ist mit den Resten vollgestopft, die er aus dem Kühlschrank hat einpacken müssen, damit sie nicht verderben. Irgendwo auf einem Campingplatz wird er sich daraus ein leckeres Nachtessen kochen.
Er steuert seinen Camper Richtung Autobahn und wählt die Spur in Richtung Zürich. In Gedanken wählt er seine Route zum Gotthard. Von den vier möglichen Strecken wählt er die Autobahnvariante, über Oftringen, Luzern zum Gotthard. Im Radio wird die Musik unterbrochen, in den Verkehrsnachrichten erzählen sie von vielen Kilometern Stau vor dem Gotthard Strassentunnel.
Mist, denkt er und ändert seine Route. Die zweite Wahl einer möglichen Strecke, via Bern, Lötschberg und Aosta, ist wegen Schneefalls am Grossen Sankt Bernhard gesperrt, womit das Wallis ebenfalls wegfällt. Die dritte Wahl, der San Bernardino via Chur, wird kurzzeitig wegen eines Unfalls geschlossen. Es scheint, als wolle sein kleines aber schmuckes Land ihn mit allen Mitteln am Verreisen nach Italien hindern, als habe sich ein übelgelaunter Reisegott mit seiner Verlegerin verbündet.
Dabei hat er sich so auf die Reise gefreut. Die Arbeit und seine privaten Turbulenzen haben ihren Beitrag dazu geleistet. Er ist reif für Ferien. Durch die vielen Änderungen nicht beunruhigt, steuert er seinen Camper entlang der Variante vier, mit grossem Umweg über Österreich, Innsbruck und den Brennerpass. Da ein erstes Streckenziel Rimini ist, spielt es keine grosse Rolle, wo er die Kilometer in östlicher Richtung macht, ob nördlich oder südlich der Alpen.
In Rimini will er eine sehr gute Freundin treffen. Eine Frau, die ihm schon so oft aus seelischen Tiefs geholfen hat. Sie und die Musik, denkt er, das sind die wahren Freunde im Leben. Java und er haben sich vor vielen Jahren an einem Open-Air kennengelernt. Damals hat er selbst noch Musik gemacht. Er war der Schlagzeuger einer eher mittelmässigen Band. Sie hatten einen Auftritt auf einer Nebenbühne. Java war die schwarze Sängerin einer weit erfolgreicheren Band aus Winterthur. Sie spielten gleich nach Marcos Band auf der Hauptbühne und er folgte begeistert ihrem Konzert. Durch die VIP-Karten konnte er sie backstage treffen. Sie haben sich auf Anhieb verstanden und seither schreiben sie sich immer wieder, erzählen einander ihre Hochs und Tiefs und lassen sich an ihrem eigenen Leben teilhaben. Java ist für Marco wie eine Schwester geworden. Er freut sich darauf, die lebensfrohe und ebenfalls gerne reisende junge Musikerin an der Adria zu treffen.

Die Reise - LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt