3 Marseille

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Ich hasse diese Stadt, denkt sich Elena Pignatelli. Sie geht leicht verkatert durch die Altstadt in Richtung Kathedrale am Hafen. Gerade eben ist sie in einen Hundekot getreten. Typisch Frankreich, flucht sie innerlich und hält Ausschau nach einem Brunnen, um sich die neuen Sneakers zu waschen. Was für ein verlorener Abend. Zu viele Drinks, zu viele Typen mit zu viel Aftershave, zu wenig Geld. Sie zieht ihren Schuh aus und hält ihn in den Brunnen, schwenkt ihn im flachen Wasserbecken. Gute Musik haben wir gemacht, ohne Zweifel, nur haben es diese Banausen nicht bezahlen wollen. Und jetzt diese Scheisse, im wahrsten Sinne. Sie wirft einem lächelnden Touristen einen tödlichen Blick zu und stapft ins nächstgelegene Café.
„J'prends un café, mais vite, compris?" schnauzt sie die Bedienung an.
Der junge Mann hinter dem dunkelbraunen Tresen reagiert nicht darauf, stellt ihr den schwarzen Kaffee aber lustlos hin. „Ça fait deux Euros."
Sie bezahlt, schluckt den kurzen Energieschub hinunter und verlässt das Restaurant. Der Mann am Tresen zuckt mit den Schultern, blickt der Frau mit der erotischen Stimme nach und greift danach zum Telefon.
Elena ist schon draussen. In Gedanken versunken nimmt sie die zweite Querstrasse nach rechts und folgt dem breiten Four du Chapitre bis zum weiten Place de la Major. Die grosse Kathedrale steht ruhig und majestätisch da, ein Anker in jedem Sturm. Mit ihren schwarzen und weissen Mauern wirkt sie mit ihren Kuppeln etwas exotisch. Um diese Tageszeit hat es erst sehr wenige Touristen auf dem erhöhten Platz mit dem herrlichen Ausblick auf den Hafen und das Meer. Elena steigt die Treppen zur Hafenpromenade hinab und schlendert auf die Sitzgelegenheiten in der Nähe des Riesenrades zu. Sie muss endlich einen Job finden. Die Jahre der Rumtreiberei sind endgültig vorbei. Elena setzt sich auf eine Parkbank am Hafen, ganz in der Nähe der Verladestellen für Autos. Sie stützt ihren Lockenkopf auf ihre Hände und beginnt über ihre nächsten Schritte nachzudenken. Jeden Abend als Aushilfe in einer erfolglosen Band die Leadstimme zu singen oder als zweite Stimme zu begleiten, das bringt nichts.
Ihre Grossmutter hatte sie davor gewarnt, all'estero, ins Ausland zu gehen. Doch sie war jung, wollte sich nichts sagen lassen. Die Welt lag ihr zu Füssen. Sie ist immer noch hübsch, sie hat lange, dunkle Locken und grosse braune Augen. Sie ist nicht sehr gross, sportlich gebaut und ihre Stimme ist einzigartig, denkt sie sich. Vielleicht kann sie damit wirklich noch Karriere machen. Elena möchte Sängerin werden, richtig berühmt sein und sogar einmal in Amerika auftreten. Davon träumt sie seit sie sechzehn ist und immer noch, auch wenn sie inzwischen elf Jahre älter ist. Die letzten Jahre hat sie einfach nur weit weg von ihrer Familie verbringen wollen. Alleine sein, sich ein Leben aufbauen, für sich selbst sorgen und dabei niemandem Rechenschaft ablegen. Leider hat das nicht so geklappt, wie sie es sich erhofft hatte. Sie gibt sich noch eine Chance. Wenn sie bis Ende Monat nicht bei einer richtigen Band als Sängerin angestellt wird, dann geht sie zurück nach Apulien. Sie hofft, ihrer Grossmutter diese Genugtuung nicht geben zu müssen und tippt die Nummer einer Agentin in ihr Handy.

***

Die Barbarossa, das grosse Fährschiff von Franco Montini, liegt im Hafen von Marseille. Um diese Zeit am Morgen kann die Fähre noch am südlichsten Anlegeplatz festgemacht werden. Tagsüber liegen dort die Schiffe nach Bastia. Dieser Platz ist aber ideal für den Verlad von vielen Autos. Der Capitano, wie er von allen nur genannt wird, ist dabei, zweihundert Gebrauchtwagen für Nordafrika zu laden. Einer nach dem anderen verschwinden die Wagen im Bauch der Fähre. Ein buntes Treiben, auf den ersten Blick chaotisch und dennoch professionell und organisiert. Die Autos werden von Mitarbeitern des Hafens und von der Crew gefahren. Über viele Monate haben Agenten sie in ganz Südeuropa gesucht, gekauft und hier in Marseille zwischengelagert. Die meisten sind kleine bis mittelgrosse Dieselfahrzeuge oder Lieferwagen. Im Durchschnitt kann man diese Fahrzeuge in Afrika für den doppelten Preis verkaufen. Gutes Geld. Europas ausgemusterte Fahrzeuge werden in Afrika fast als Neuwagen dastehen und noch viele Jahre die Luft verpesten, damit Europa neuere und strengere Abgasvorschriften erlassen kann.
Was soll's, Franco kümmert die Politik nicht. Er ist bloss der Skipper und tut, wie ihm beauftragt. Meistens steuert er Tanger an, ab und zu auch Tunis, so auch mit dieser Fahrt. Dann und wann legt er unterwegs an einem kleineren Hafen an und nimmt heisse Ware auf, Gebrauchtwagen, die nie wirklich verkauft wurden. Franco fragt nicht nach, woher seine Ware kommt. Es ist besser, nichts zu wissen, dann können sie dich auch nichts fragen. So lautet sein Leitspruch und bisher ist er damit gut gefahren. Auf dieser Fahrt wird die Barbarossa in Livorno, in Neapel und in Palermo Zwischenhalt machen.
Der Capitano steht an der Reling und schaut auf die Hafenanlage. Seine Kapitänsmütze hat er abgelegt. Nun kann man sein schon ziemlich graues, etwas dünner werdendes Haar sehen. Auch sein Bart spriesst grau, was ihn älter aussehen lässt, als er eigentlich ist. Er beobachtet eine Weile lang das Ladeprozedere und schweift seinen Blick dann über die Hafenpromenade von Marseille. Rechts, auf der Promenade, steht das weisse Riesenrad. Im Hintergrund kann man das moderne Museum der Zivilisationen Europas und das alte Fort Saint Jean sehen. Auf einer Bank der Promenade sieht der Capitano eine vermutlich sehr hübsche junge Frau sitzen. Sie trägt wohl neue Sneakers, sieht aber irgendwie zerknittert aus.
Franco denkt an seinen Sohn, der etwa im gleichen Alter sein wird. Er hat es zur italienischen Polizei, den Carabinieri, geschafft. Manchmal erschleicht Franco ein schlechtes Gewissen, wenn er daran denkt, dass er als Vater gestohlene Autos für die Mafia transportiert und sein Sohn bei den Bullen ist. Er hat seinem Sohn schon vor vielen Jahren gebeichtet, was er tut. Aber der Junge hat bloss mit den Augen gezwinkert und gemeint, das sei doch nicht so schlimm. Er könne ja immer noch behaupten, davon nichts gewusst zu haben. Damals hat der Capitano begriffen, dass sein Sohn die Polizeiarbeit nach eigenen Gesetzen interpretiert. Nun weiss Franco nicht was schlimmer ist: Skipper für die Mafia zu sein oder einen korrupten Polizisten als Sohn zu haben. Er hat noch immer nicht ganz akzeptiert, dass sein Sohn die Hand aufhält um wegzusehen.
In solchen Momenten denkt Franco dann doch an die Politik und ärgert sich über die strahlenden, ewig grinsenden Herren in ihren teuren Anzügen, welche Italien in den Sand gefahren haben nur um ihre eigenen Taschen zu füllen. Er denkt an die feinen Herren, denen nie etwas passieren kann, die immer mit ihren Geschäften durch kommen. Franco schaut noch einmal zu der jungen Frau auf der Parkbank und hofft, sein Sohn möge einmal eine so hübsche Frau finden und mit ihr eine glückliche Familie gründen. Dann drückt er seine Zigarette aus und geht hinauf zur Brücke.

Die Reise - LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt